Kinder der Stürme

wird.“
    Als die Flieger fort waren, glaubte Maris im Haus zu ersticken. Draußen ging es ihr auch nicht besser. Sie lehnte sich an die Tür. Helmer hatte recht, heute war kein gutes Flugwetter. An solchen Tagen mußte man mit Windstille rechnen. Sie zitterte und bangte um Dorrel. Er ist ein ausgezeichneter Flieger, man braucht sich um ihn keine Sorgen zu machen, dachte sie, um sich selbst zu beruhigen. Wenn sie den ganzen Tag im Haus sitzen und an die Gefahren denken würde, würde sie bestimmt verrückt werden. Es war schon schlimm genug, herumsitzen und warten zu müssen, ohne selbst fliegen zu können. Sie sah in den wolkenbedeckten Himmel hinauf. Wenn die Versammlung sie nun verurteilte, für immer eine Landgebundene zu sein …
    Später hatte sie noch genug Zeit, sich Sorgen zu machen. Sie entschloß sich, nicht weiter darüber nachzudenken, und ging ins Haus zurück.
    Anitra, die Nachtjägerin, schlief hinter dem Vorhang. Die Hütte war ruhig und leer. Sie dachte an Dorrel. Wenn sie mit ihm ihre Sorgen hätte teilen können, wären sie ihr nur halb so schwer vorgekommen. Immer wieder überlegte sie, warum Corm die Versammlung einberufen hatte. Ihre Gedanken flatterten wie Vögel in einem Käfig.
    Ein Geechispiel stand oben auf Dorreis Kleiderschrank. Sie nahm es herunter und stellte die glatten, schwarzen und weißen Kieselsteine zu einer simplen Eröffnung auf. Hastig begann sie zu spielen, wobei sie abwechselnd und ohne nachzudenken die Steine beider Parteien zu neuen Anordnungen verschob. Jeder Zug folgte aus dem vorangegangenen, unvermeidlich wie das Schicksal. Sie begann zu grübeln:
    Corm ist ein stolzer Mann, und ich habe seinen Stolz verletzt. Er ist als guter Flieger bekannt, aber ich, die Fischerstochter, habe ihm die Flügel gestohlen und bin ihm entkommen, als er mich verfolgte. Um seine Ehre wiederherzustellen, muß er mich öffentlich demütigen. Die Flügel zurückzubekommen, reicht ihm nicht. Nein, jeder Flieger soll der Demütigung beiwohnen, wenn er mich zur Gesetzesbrecherin stempelt.
    Maris seufzte. So mußte es sein. Die Versammlung sollte die landgebundene Fliegerin verurteilen, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatte. Oh, ja, man würde viele Lieder darüber schreiben. Aber vielleicht spielte das keine Rolle. Auch wenn Corm ihr zuvorgekommen war, konnte sich die Versammlung gegen ihn wenden. Sie, die Angeklagte, hatte das Recht, sich zu verteidigen und die sinnlosen Traditionen zu kritisieren. Sie hatte immer noch eine Chance, obwohl es Corm war, der die Versammlung anberaumte, und nicht Dorrel. Aber erst jetzt wurde ihr das gesamte Ausmaß von Corms Haß und seiner Wut bewußt.
    Sie blickte auf das Spielbrett. Die schwarzen und weißen Steine standen sich in der Mitte des Feldes gegenüber. Beide Armeen hatten sich gesammelt, um die gegnerische Formation anzugreifen. Dies war kein geruhsames Spiel. Mit ihrem nächsten Zug würde der Schlagabtausch beginnen.
    Maris lächelte grimmig und fegte die Steine vom Tisch.
    Es dauerte einen ganzen Monat, bis alle Versammlungsteilnehmer eingetroffen waren.
    Dorrel hatte am ersten Tag vier und am nächsten Tag fünf weitere Flieger verständigt. Und diese wiederum sagten anderen Bescheid, und so fort. So zog die Nachricht immer weitere Kreise auf den Meeren von Windhaven. Ein Sonderkurier wurde zu den Äußeren Inseln geschickt, ein anderer nach dem einsamen Artellia, der großen Eisinsel im Norden. Bald hatten alle die Nachricht erhalten und flogen einer nach dem anderen zum Treffpunkt.
    Als Versammlungsort diente Groß Amberly. Dem Gesetz nach hätte die Versammlung auf Klein Amberly stattfinden müssen, dem Wohnort von Maris und Corm. Aber auf der kleinen Insel befand sich kein Gebäude, das groß genug war, die Versammlung zu beherbergen. Groß Amberly verfügte über eine große, feuchte Halle, die nur selten benutzt wurde.
    Hierher kamen die Flieger von Windhaven. Natürlich nicht alle, denn es gab immer Notfälle. Einige hatte die Nachricht nicht erreicht, und andere waren auf langen, gefährlichen Flügen verschollen. Aber die meisten, die überwiegende Mehrzahl, hatten sich eingefunden, und das genügte. Noch keiner von ihnen hatte an solch einer Versammlung teilgenommen. Selbst die alljährlichen Wettkämpfe auf Eyrie waren im Vergleich dazu bloß lokale Wettkämpfe zwischen den Östlichen und den Westlichen Inseln. So erschien es wenigstens Maris. Den ganzen Monat über hatte sie gewartet und bemerkt, wie sich die Straßen von