Kinder der Stürme
genommen, aber nicht ihr Leben.“
„Das ist ein und dasselbe“, murmelte Garth halbherzig. Wieder sah er Val an. „Damals warst du noch ein Junge, und niemand von uns ahnte, daß Ari sich umbringen würde. Ich habe selbst viele Fehler begangen, obwohl sie nicht so schlimm waren wie deiner, aber ich denke …“
„Ich habe keinen Fehler begangen“, unterbrach ihn Val.
Garth blinzelte. „Deine Herausforderung war ein Fehler“, sagte er. „Ari tötete sich selbst.“
„Ich würde sie wieder herausfordern“, sagte Val. „Sie war nicht fähig zu fliegen. Ihr Tod war ihr Fehler, nicht meiner.“
Garth blieb immer freundlich und liebenswürdig, selbst wenn er manchmal innerlich vor Wut kochte. Maris hatte sein Gesicht noch nie so kalt und verbittert gesehen wie jetzt. „Mach, daß du rauskommst, Einflügler“, sagte er ruhig. „Verlaß diese Hütte und betrete sie nie wieder, ob mit Flügeln oder ohne. Ich werde dir nichts tun.“
„Ich werde nicht zurückkehren“, sagte Val. „Dennoch danke ich dir für deine Warmherzigkeit und Großzügigkeit.“ Er lächelte und ging zur Tür. S’Rella folgte ihm.
„S’Rella“, sagte Garth. „Ich wollte nicht … du kannst bleiben, Mädchen … ich habe nichts …“
S’Rella drehte sich um. „Alles, was Val sagt, ist wahr. Ich hasse euch alle.“ Damit folgte sie Val Einflügler in die Nacht hinaus.
In dieser Nacht kehrte S’Rella nicht in die kleine Hütte zurück, aber bei Tagesanbruch kam sie zusammen mit Val, um zu üben. Maris gab ihnen die Flügel und begleitete sie die steil gewundene Steintreppe zur Sprungklippe hinauf. „Tragt ein Rennen aus“, trug sie ihnen auf. „Fliegt die Küste entlang, nützt die Brise aus und bleibt niedrig. Umkreist die ganze Insel.“
Als sie außer Sichtweite waren, legte auch Maris die Flügel an. Sie würden einige Stunden benötigen, und sie war froh, daß sie die Zeit ausnutzen konnte. Sie war nicht in der Stimmung, die Gesellschaft anderer zu ertragen, am allerwenigsten die Vals. Sie gab sich der heilenden Umarmung des Windes hin und glitt über die See.
Der Morgen war fahl und ruhig, der kräftige Wind trieb sie vor sich her. Sie ritt auf ihm, ließ sich von ihm tragen, ganz gleich, in welche Richtung. Sie wollte nur fliegen, den Wind spüren und die kleinlichen Sorgen der Erde in der kühlen, sauberen Luft des Himmels vergessen.
Es gab nur wenig zu sehen. Möwen und Aasdrachen, ein oder zwei Falken am Ufer von Skulny, hie und da ein Fischerboot und weiter draußen nur der Ozean, überall der Ozean. Auf seinem blaugrünen Wasser brachen sich die Sonnenstrahlen. Einmal sah sie ein Rudel Seekatzen, anmutige silberne Gestalten, deren spielerische Sprünge sie zwanzig Fuß über die Wellen trugen. Eine Stunde später bekam sie flüchtig einen Windgeist zu Gesicht, einen gewaltigen fremdartigen Vogel mit halb durchscheinenden Flügeln, die so groß und dünn waren wie die Segel der Handelsschiffe. Obwohl sie schon öfter Flieger hatte davon reden hören, hatte sie selbst noch nie einen gesehen. Sie bevorzugten die höheren Luftschichten, wo Menschen nur selten flogen, und waren vom Land aus nie zu sehen. Dieser flog recht tief und ließ sich vom Wind treiben. Seine großen Flügel schienen sich kaum zu bewegen. Doch schon bald verlor sie ihn wieder aus den Augen.
Sie verspürte ein Gefühl tiefen Friedens, alle Spannungen und Schwierigkeiten waren landgebunden und zurückgeblieben. Das macht das Fliegen aus, dachte sie. Der ganze Rest, die Nachrichten, die sie übermittelte, die Ehre, die man ihr erwies, das angenehme Leben, die Freunde und Feinde innerhalb der Fliegergesellschaft, die Regeln, Gesetze und Legenden, die Verantwortung und die ungebundene Freiheit, das alles war nur zweitrangig. Der eigentliche Lohn war für sie einfach nur das Gefühl des Fliegens.
Auch S’Rella empfindet es so, dachte sie. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie sich zu dem Mädchen aus dem Süden so hingezogen fühlte. Die Art, wie sie vom Flug zurückkehrte, mit roten Wangen, strahlenden Augen und einem Lächeln um den Mund. Und plötzlich wurde ihr bewußt, daß Val von alledem nichts hatte. Der Gedanke stimmte sie traurig. Selbst wenn er die Flügel gewinnen sollte, würde er viel verpassen. Er empfand unbändigen Stolz auf die Fliegerei und kehrte jedesmal mit einem Ausdruck der Zufriedenheit zurück, aber er war nicht in der Lage, Freude zu empfinden. Ob er die Flügel gewann oder nicht, der Friede und das Glück
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