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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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der erstarrten Menge um. „Wo ist der Landmann? Er soll Recht sprechen.“
    Die Stimme des Landmannes klang besorgt. „Das Gesetz … die Tradition … aber in diesem Fall ist alles anders, Corm. Maris hat Amberly große Dienste erwiesen, und wir alle wissen, wie gut sie fliegt. Ich …“
    „Das Gesetz“, beharrte Corm.
    Der Landmann schüttelte den Kopf. „Ja, ich kenne meine Pflichten, aber … das Gesetz sagt, wenn ein Flieger auf die Flügel verzichtet, müssen sie vom ältesten Flieger der Insel und von mir aufbewahrt werden, bis ein neuer Flieger erwählt wird. Aber bisher hat noch kein Flieger die Schwingen verschmäht. Bisher wurde das Gesetz nur angewendet, wenn ein Flieger starb, ohne einen Erben zu hinterlassen. Aber in diesem Fall kann Maris …“
    „Gesetz ist Gesetz“, sagte Corm.
    „Und du willst es blind befolgen“, warf Barrion ein.
    Corm schenkte seinen Worten keine Beachtung. „Seit Russ nicht mehr fliegen kann, bin ich Klein Amberlys ältester Flieger. Ich werde sie in meine Obhut nehmen, bis wir jemanden gefunden haben, der sich als würdig erweist, sie zu tragen. Jemanden, der das Gesetz ehrt und die Tradition aufrechterhält.“
    „Nein!“ schrie Coli. „Ich möchte, daß Maris die Flügel bekommt.“
    „Du hast nichts zu sagen“, belehrte ihn Corm, „du bist jetzt ein Landgebundener.“ Corm hob die abgelegten Flügel auf und faltete sie mechanisch zusammen.
    Maris sah sich hilfesuchend um, aber vergebens. Barrion machte eine entschuldigende Geste. Shalli und Helmer wichen ihrem Blick aus. Und ihr Vater stand als gebrochener Mann da. Er war kein Flieger mehr, nur noch ein kranker alter Mann. Die Menge löste sich allmählich auf.
    Der Landmann trat auf sie zu. „Maris“, begann er, „es tut mir so leid. Wenn es nach mir ginge, hätte ich dir die Flügel gegeben. So war das Gesetz nicht gemeint, nicht als Strafe, sondern als Hilfe. Aber es ist das Gesetz der Flieger, und ich kann mich ihm nicht widersetzen. Wenn ich mich gegen Corm entschieden hätte, wäre es Amberly so ergangen wie Kennehut. Dann würde ich in den Liedern als alter Narr besungen.“
    Sie nickte. „Schon gut“, sagte sie. Corm hatte sich die Flügel unter den Arm geklemmt und stolzierte weg vom Strand.
    Der Landmann wandte sich um und ging. Maris trat auf Russ zu. „Vater …“, begann sie.
    Er schaute auf. „Ich habe keine Tochter mehr“, sagte er nachdrücklich und wandte sich ab. Sie sah ihn gebeugten Hauptes landeinwärts gehen, um seine Schande zu verbergen.
    Nun standen die drei allein am Strand, wortlos und niedergeschlagen. Maris nahm Coli zärtlich in die Arme. Sie hielten einander wie schutzsuchende Kinder fest.
    „Kommt mit zu mir“, sagte Barrion, seine Stimme riß sie aus ihrer Ohnmacht. Sie lösten sich voneinander und folgten dem Sänger, der sich die Gitarre umgehängt hatte, nach Hause.
    Die folgenden Tage waren für Maris düster und voller Sorgen.
    Barrion lebte in einer kleinen Hütte am Hafen, gleich neben einem alten verfallenen Pier. Coli war glücklicher, als Maris ihn je erlebt hatte. Jeden Tag sang er mit Barrion, und er wußte, er würde trotz allem ein Sänger sein. Ihn betrübte jedoch, daß Russ ihn nicht sehen wollte, aber selbst das vergaß er oft. Er war jung und hatte bemerkt, daß viele Gleichaltrige mit schuldbewußter Bewunderung zu ihm aufblickten. Er genoß das Gefühl, als Rebell zu gelten.
    Für Maris dagegen war alles nicht so einfach. Sie verließ die Hütte nur selten. Gelegentlich ging sie bei Sonnenuntergang auf den Pier hinaus, um die einlaufenden Fischerboote zu beobachten. Sie mußte immer an ihren Verlust denken. Sie fühlte sich gefangen und hilflos. Sie hatte alles versucht und das Richtige getan, aber die Flügel hatte man ihr dennoch genommen. Wie ein verrückter, brutaler Landmann hatte sich die Tradition durchgesetzt und hielt sie als ihre Gefangene.
    Zwei Wochen nach dem Vorfall am Strand kam Barrion nach einem langen Tag an den Docks nach Hause. Wie jeden Tag war er draußen gewesen, um neue Fischerlieder zu sammeln und in den Kneipen am Hafen zu singen. Während sie am Tisch saßen und einen heißen Fleischeintopf aßen, sah er die beiden an und sagte: „Ich habe ein Boot besorgt. In einem Monat werde ich zu den Äußeren Inseln aufbrechen.“
    Coli war begeistert. „Wir auch?“
    Barrion nickte. „Du bestimmt. Aber wie steht es mit Maris?“
    Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
    Der Sänger seufzte. „Du hast nichts davon, wenn du

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