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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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verzichtet, und Russ – selbst wenn wir mit ihm sprechen könnten – hat sie weitergegeben. Corm würde meinem Ersuchen niemals nachkommen und eine Versammlung anberaumen.“
    „Du könntest Shalli bitten“, schlug Coli vor. „Oder du könntest auf der Sprungklippe warten, bis …“
    „Shalli steht zu sehr unter Corms Einfluß, sie hat zuviel Angst“, sagte Barrion. „Sie hat Mitleid mit dir, genau wie der Landmann, aber sie würde sich nicht gegen die Tradition auflehnen. Und die anderen … auf wen könntest du zählen? Wie lange müßtest du dort oben warten? Helmer kommt häufig, aber er ist genauso konservativ wie Corm. Jamis ist zu jung, und so fort. Sie müßten ein ziemliches Risiko auf sich nehmen.“ Er schüttelte verzweifelt den Kopf. „Das klappt alles nicht, zumindest nicht in so kurzer Zeit. In zwei Wochen wird Devin deine Flügel tragen.“
    Alle drei saßen schweigend da. Maris starrte auf ihr kaltes Essen und dachte nach. Gibt es keine andere Möglichkeit, gibt es wirklich keine andere Möglichkeit, fragte sie sich. Dann sah sie Barrion an. „Vorhin“, begann sie vorsichtig, „hast du gesagt, wir könnten die Flügel stehlen …“
    Ein feuchtkalter Wind peitschte die Wellen auf. Im Osten braute sich ein Unwetter zusammen. „Gutes Flugwetter“, sagte Maris. Das Boot schwankte sanft unter ihr.
    Barrion lächelte. Er zog den Mantel etwas enger, um sich vor der Feuchtigkeit zu schützen. „Wenn du doch nur fliegen könntest“, sagte er.
    Sie blickte zum Ufer, wo Corms dunkles Holzhaus sich gegen die Bäume abzeichnete. In einem der oberen Fenster brannte Licht. Nur noch drei Tage, dachte Maris mißmutig. Er müßte schon längst hier sein. Wie lange konnten sie warten? Mit jeder Stunde kam Devin, der Mann, der die Flügel übernehmen sollte, näher.
    „Meinst du, heute nacht?“ fragte sie Barrion.
    Er zuckte die Achseln. Mit einem langen Messer säuberte er sich die Fingernägel. Die lange Wartezeit nervte ihn. „Das müßtest du besser wissen“, sagte er, ohne aufzublicken. „Der Leuchtturm ist noch dunkel. Wie oft werden Flieger gerufen?“
    „Oft“, bemerkte Maris nachdenklich. Aber würde man auch Corm rufen? Sie hatten schon zwei Nächte in ihrem Boot gewartet und darauf gehofft, daß Corm einen Auftrag erhielt und die Flügel zurücklassen mußte. Vielleicht setzte der Landmann nur Shalli ein, bis Devin eintraf. „Mir gefällt das nicht“, sagte sie. „Wir müssen etwas tun.“
    Barrion steckte seinen Dolch in die Scheide zurück. „Ich könnte Corm hiermit umbringen, aber ich werde es nicht tun. Ich halte zu dir, Maris, und Coli liebe ich wie meinen eigenen Sohn, aber ich würde niemanden wegen einem Paar Flügel umbringen. Nein. Wir warten, bis Corm vom Leuchtturm benachrichtigt wird, dann brechen wir ein. Alles andere wäre zu gewagt.“
    Umbringen, dachte Maris. Ob es dazu käme, wenn sie einbrächen und Corm zu Hause war? Plötzlich war sie sich dessen sicher. Corm war eben Corm, und er würde sich wehren. Einmal war sie in seinem Haus gewesen. Sie erinnerte sich daran, daß an einer Wand zwei gekreuzte Klingen aus Obsidian hingen. Es mußte noch eine andere Möglichkeit geben.
    „Der Landmann wird ihn nicht rufen“, sagte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend. „Nur im äußersten Notfall.“
    Barrion beobachtete die aufkommenden Wolken im Osten. „So?“ fragte er. „Wir können keinen Notfall herbeizaubern.“
    „Aber wir können ein Notsignal geben“, schlug Maris vor.
    „Hm“, machte der Sänger. Er dachte über diesen Einfall nach. „Ja, ich glaube, das ginge.“ Er lachte sie an. „Jeden Tag brechen wir ein neues Gesetz, Maris. Es ist schon schlimm genug, daß wir die Flügel stehlen wollen, aber jetzt willst du dir auch noch gewaltsam Zugang zum Leuchtturm verschaffen und ein falsches Signal geben. Gut, daß ich ein Sänger bin, sonst würden wir als die größten Verbrecher in die Geschichte Amberlys eingehen.“
    „Und wie soll uns dein Sängerdasein davor schützen?“
    „Wer denkst du, schreibt die Lieder? Ich werde uns zu Helden machen.“
    Sie lachten.
    Barrion ruderte sie schnell ans Ufer, zu einem kleinen Sumpf unter den Bäumen, nicht weit von Corms Haus. „Warte hier“, sagte er und sprang in das knietiefe Wasser. „Ich gehe zum Turm. Geh sofort rein, wenn du siehst, daß Corm das Haus verläßt.“ Maris nickte zustimmend.
    Fast eine Stunde saß sie allein in der Dunkelheit und beobachtete die entfernten Blitze im Osten. Bald

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