Kinder der Stürme
schlagen.“ Maris sah ihn wütend an. Es war alles so absurd. In der anderen Ecke des Raumes saß Coli und blickte sie fragend an. Als Maris nickte, grinste er stolz. Er hatte das Richtige getan.
Plötzlich hatte sie die Entscheidung getroffen.
Aber bevor Coli zu einem weiteren Lied ansetzen konnte, erhob sich Russ. „Nun“, sagte er, „müssen wir uns Ernsterem zuwenden. Wir haben gesungen und uns unterhalten, wir haben gut gegessen und viel getrunken, hier in gemütlicher Runde. Aber draußen heulen die Winde.“
Wie erwartet, lauschten alle seinen Worten mit gebührendem Ernst. Das Heulen des Windes, das die ganze Zeit in den Hintergrund getreten war, schien mit einem mal den Raum zu füllen. Auch Maris hörte es und zitterte.
„Die Flügel“, sagte ihr Vater.
Der Landmann trat hinzu. Er hielt die Flügel, die man ihm anvertraut hatte, in seinen Händen. Er sprach die rituellen Worte. „Seit ewigen Zeiten haben die Flügel Amberly gedient. Seit den Tagen der Sternensegler haben sie uns generationenlang mit den anderen Inseln Windhavens verbunden. Marion, die Tochter eines Sternenseglers, flog mit ihnen und deren Tochter Jeni, dann deren Sohn Jon und Anni und Flan und Denis“, … die Ahnentafel war noch lang …, „und schließlich trugen sie Russ und seine Tochter Maris.“ Als Maris’ Name erwähnt wurde, ging ein Raunen durch die Menge. Sie war kein richtiger Flieger und hätte nicht genannt werden dürfen. Welche Ironie, dachte Maris, sie wurde als Flieger bezeichnet, und im gleichen Augenblick nahm man ihr die Hügel. „Und ab heute wird der junge Coli sie tragen. Nun werde ich, wie Generationen von Landmännern es getan haben, sie einen Moment halten, um ihnen Glück zu bringen. Durch meine Berührung hat das ganze Volk von Klein Amberly die Flügel berührt, durch meine Stimme verkündet es: Fliege gut, Coli!“
Der Landmann reichte die Flügel an Russ weiter. Ihr Vater nahm sie entgegen und wandte sich Coli zu, der aufgestanden war. Die Gitarre lag zu seinen Füßen. Er sah klein und blaß aus. „Es ist an der Zeit für mich, die Flügel weiterzureichen, auf daß Coli sie entgegennehme. Aber es wäre töricht, sie hier im Haus zu entfalten, darum laßt uns auf die Sprungklippe hinausgehen und sehen, wie aus dem Jungen ein Mann wird.“
Die Fackelträger, alle selbst Flieger, waren bereit. Sie verließen die Hütte. Coli ging zwischen seinem Vater und dem Landmann, gefolgt von den Fackelträgern. Maris und die restliche Gesellschaft gingen in einigem Abstand hinterher.
Sie mußten zehn Minuten gehen. Langsam, in feierlicher Stille schritt die Gesellschaft einher. Auf der Klippe angekommen, bildeten sie einen Halbkreis. Russ stand allein am Rand der Klippe und befestigte mit seiner gesunden Hand die Flügel seines Sohnes, wobei er jegliche Hilfe von sich wies. Colls Gesicht war kreidebleich. Er stand bewegungslos da, während Russ die Flügel entfaltete. Sein Blick war unablässig auf den Abgrund gerichtet, in dessen Tiefe dunkle Wellen gegen das Ufer schlugen.
Dann war alles bereit. „Mein Sohn, du bist ein Flieger“, sagte Russ, trat einen Schritt zurück und trat neben Maris. Coli stand allein unter den Sternen, am Rand des Abgrundes. Seine riesigen Flügel ließen ihn kleiner als zuvor aussehen. Maris wollte schreien, die Zeremonie unterbrechen, irgendetwas tun. Tränen liefen ihr über die Wangen. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Wie alle anderen wartete sie auf den ersten Flug ihres Bruders.
Endlich atmete Coli tief ein und sprang von der Klippe.
Beim letzten Anlauf geriet er ins Stolpern und stürzte in die Tiefe. Die Menge rannte an den Rand der Klippe. Als sie dort angekommen waren, hatte er sich bereits wieder gefangen und begann zu steigen. Er drehte einen weiten Bogen über dem Ozean und glitt dann nahe an die Klippe heran und wieder hinaus. Manchmal führten die jungen Flieger wahre Kunststücke vor, aber Coli hielt nichts davon. Wie ein silberner Geist mit Flügeln glitt er dahin und wirkte verloren in der Weite des Himmels, der nicht sein Zuhause war.
Weitere Flügel wurden entfaltet. Corm, Shalli und die anderen Flieger machten sich für den Flug bereit. In Kürze würden sie Coli im Formationsflug begleiten. Dann würden sie die Landgebundenen hinter sich zurücklassen und zu Eyrie hinauffliegen, um dort den Rest der Nacht mit dem neuen Flieger zu feiern.
Bevor sie jedoch starten konnten, drehte der Wind. Mit der Sensibilität eines Fliegers hatte Maris die
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