Kinder des Donners
beruflich.«
Riskantes Spiel. Aber ich habe sie als sehr direkte Person in Erinnerung, so direkt, daß es fast schon peinlich werden konnte.
Sie brauchte so lange, sich die Sache zu überlegen, daß er die Hervorkehrung einer seiner schlechteren Ei-
genschaften durch die einer besseren aufzuheben ver- suchte, indem er hinzufügte: »Ich kenne mich in dieser Gegend ganz gut aus. Wenn es Ihnen aufgrund der Zeitverschiebung mehr nach einem Brunch als nach ei- nem Abendessen zumute ist, kenne ich genau das rich- tige Lokal dafür.«
»Ich vermute«, sagte Claudia mit gekräuselten Lip- pen, »es ist ganz gut, daß sie Non-Fiction-Schreiber sind und nicht Erfinder fiktiver Geschichten.«
»Wie bitte?« Dieser Gedankensprung verwirrte Peter.
»Sie sind ein schlechter Lügner und ein erbärmlicher Schauspieler. Sie taten so, als hätten Sie nicht gewußt, daß ich in London bin. Wie lange lungern Sie schon hier herum, für den Fall, daß ich auftauche?«
»Ich weiß nicht, was Sie ...«
»Oh, sparen Sie sich dieses Theater!« — ihr Ärger war nicht gespielt. »Wenn ich vor einem oder mehreren Ta- gen bereits angekommen wäre, würde ich dann immer noch so sehr unter der Zeitverschiebung leiden, daß ich abends um sieben Lust auf einen Brunch habe? Wie,
zum Teufel, sind Sie darauf gekommen, daß ich hier bin? Ich hatte gehofft, einige Wochen in Ruhe gelassen zu werden, bevor die Nachricht die Runde macht.«
Einen Moment lang erwog Peter, zu seiner ursprüng-
lichen Strategie zurückzukehren. Er gab der Entschei- dung dagegen knappen Vorzug. Im Umgang mit einer Frau wie dieser war es sinnvoller, den irrenden, verletz- baren Mann zu mimen. Er setzte ein einfältiges Grin- sen auf und breitete die Hände aus. »BIOSOC«, gab er zu.
»Sie sind auf Draht«, räumte sie widerwillig ein. »Es gibt bestimmt kaum ein Dutzend Leute in Großbritan- nien, die diese Tafel abrufen. Eine ausgestorbene Ge- gend! Alle Leute hier, die früher in meinem Bereich For- schungen betrieben haben, sind entweder ins Ausland
vertrieben worden oder waren zum Aufgeben gezwun- gen. Ich weiß nicht, ob das daran liegt, daß die Regie-
rung es sich wahrhaftig nicht leisten kann, sie zu finan- zieren, oder daß man Angst vor den Ergebnissen hat, zu denen wir kommen könnten.«
Unwillkürlich hatte es sich so ergeben, daß sie sich in dieselbe Richtung gewandt hatten und Seite an Seite zur Hauptstraße gingen. Peter nahm seine Chance wahr.
»Eher das zweite als das erste. Es ist nicht so, daß un- sere Kassen leer sind — das kann nicht sein. Ihre Art von Forschungsarbeit verlangt vielmehr eine Analyse vorhandener Daten als eine kostspielige neue Ausrü- stung, und in Großbritannien verfügen wir über die be-
sten Quellen weit und breit. Die Unterlagen über groß- angelegte soziologische Beobachtungen sind ein unver- gleichlicher Schatz. Doch sobald sich jemand daran-
macht, die Wurzeln unserer heutigen Probleme in den von früheren Regierungen getroffenen Entscheidungen
zu suchen, stößt er zwangsweise auf unerfreuliche Wahrheiten, die ein wiedergutmachendes Handeln er- fordern, und solches Handeln könnte leicht zu Verände- rungen führen, die die herrschende Klasse aufgrund ih-
rer Inkompetenz der Macht berauben — Vorsicht!«
Er warnte sie, indem er ihren Arm berührte, als sie vor dem Überqueren der Straße aus Gewohnheit in die falsche Richtung blickte. Der Fahrer eines Minitaxis, der es besonders eilig hatte, hupte wild und brauste mit ei-
ner Geschwindigkeit, die die erlaubte bestimmt über- schritt, an ihnen vorbei. Aus einer Seitenstraße nahm ein Polizeiwagen mit quietschenden Reifen, blinkendem Blaulicht und eingeschaltetem Martinshorn die Verfol- gung auf.
»Jedesmal, wenn ich wieder hier bin, kommt es mir mehr wie New York vor«, murmelte Claudia, als sie auf der anderen Straßenseite waren.
»Was veranlaßt Sie, immer wieder herzukommen?«
wagte Peter zu fragen. »In ein Land, das Ihrer Ansicht nach so rückschrittlich ist?«
Sie blieb stehen, drehte sich mit einem Ruck um und blickte ihm ins Gesicht. Für einen Augenblick nahm ihre Miene einen harten Ausdruck an. Dann entspannte sie sich wieder.
»Na gut, Sie bekommen, was Sie wollen. Sie sind ein gerissener Hund, was? Ich könnte mir sogar vorstellen, daß Sie sich absichtlich mit der Bemerkung über die Zeitverschiebung verraten haben, nur um zu unterstrei- chen, wieviel schneller Sie aus den Startlöchern gekom- men waren als Ihre Kollegen ... Okay, wohin gehen
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