Kinder des Feuers
waren, die grausamsten und kältesten – und zugleich die stärksten, die außergewöhnlichsten, die leidenschaftlichsten.
Doch sie starb nicht, und Arvid starrte sie nicht länger nur an. Hände packten sie, seine Hände, und zerrten sie zur Seite. Erst als sie den festen, warmen Griff spürte, gewahrte sie, dass er keine Vision war, die ihr den Tod leichter machen sollte, kein Schatten und kein Geist, sondern dass er wirklich und wahrhaftig vor ihr stand, ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Gleiches Blut raste heiß durch ihre Adern, als sie nun dicht an ihn gedrängt dastand, kaum zwei Schritte von dem entfernt, was da neben ihr auf den Boden gefallen war. Wenn es sie getroffen hätte, wäre sie jetzt tot.
Viel zu früh ließ er sie los. Das Blut erkaltete.
Lautes Geschrei ertönte nun, wenn auch nicht aus ihrem Mund, wie sie im ersten Augenblick noch glaubte, sondern aus Gerlocs. Die junge Frau kam auf sie zugestürzt, fasste sie dort an, wo Arvid sie eben berührt hatte, und schüttelte sie. »Ist dir etwas passiert? Bist du verletzt?«
Mathilda starrte erst sie an, dann Arvid, der immer weiter zurückwich, sich duckte, schließlich in der Menschenmenge verschwand – und sie mit Zweifeln zurückließ. War er es wirklich gewesen, oder hatte sie ihn, aus Schock und Angst, mit einem fremden Mönch verwechselt?
»Wie konnte das nur passieren …«, setzte Gerloc an, ließ sie los und blickte argwöhnisch hoch zur Mauer. Nichts regte sich dort. Ein Kreis von Menschen hatte sich um sie gebildet, die tuschelnd auf den Gegenstand deuteten, und Gerloc bückte sich schließlich danach.
»Töten …«, stieß Mathilda aus, die Zunge war so groß und schwer, sie war nicht sicher, ob ihre Worte verständlich waren. »Jemand … jemand wollte mich töten. Und Arvid … da war doch Arvid …«
»Es ist ein Wetzstein!«, rief Gerloc. »Warum ist er von dort oben heruntergefallen?«
»Weil jemand ihn von dort oben auf mich geworfen hat«, stammelte Mathilda.
Gerloc war bereit, sich über Leichtsinn und Ungeschicklichkeit empört zu zeigen. Doch sie war von zu schlichtem Gemüt, um den dunklen Gedankengängen eines Mörders zu folgen.
»Ach was!«, rief sie. »Warum sollte dich jemand töten wollen? Gewiss war es nur ein dummer Zufall. Krieger schreiten regelmäßig die Mauer ab. Wahrscheinlich haben sie den Wetzstein benutzt, um ihre Schwerter zu schleifen, und haben ihn später vergessen. Und eben ist jemand darüber gestolpert und hat gar nicht bemerkt, welchen Schaden er anrichtete.«
Mathilda begann zu zittern. Sie dachte an die dunkle Gestalt im Wald, die sich über sie gebeugt hatte, an das silbrig blitzende Messer, an das kalte Licht des Mondes … sie dachte an ihre toten Mitschwestern von Saint-Ambrose, an ihr Versteck inmitten der Strohballen und die Angst zu verbrennen. Sie dachte an den Befehl des Kriegers.
Findet sie.
Jemand hatte sie töten wollen. Jemand wollte sie immer noch töten.
Aber jemand hatte damals die Gefahr für ihr Leben abgewendet, jemand hatte es heute wieder getan.
Arvid …
»Wer war es, der mich gerettet hat?«, fragte sie und zweifelte noch immer, ob sie ihren verstörten Sinnen trauen durfte.
Gerloc war wieder zu ihr getreten, die Menge hatte sich zerstreut. »Es war ein Mönch … einer der vielen Mönche im Gefolge meines Bruders. Du weißt doch«, sie verdrehte die Augen, »Wilhelm ist schrecklich fromm, er betet fortwährend.«
»Kennst du seinen Namen?«
Gerloc zuckte ratlos die Schultern. »Ich glaube, dass er aus Jumièges stammt und schon seit Jahren an Wilhelms Seite lebt.«
»Kann sein Name Arvid sein?«
Gerloc zuckte wieder die Schultern. »Vielleicht.«
Obwohl sie es nicht sicher wusste, war Mathilda sich jäh gewiss, dass er kein Trugbild gewesen war. Arvid lebte an Graf Wilhelms Hof – und das schon seit Jahren. Er war immer wieder in ihrer Nähe gewesen, aber er hatte nie versucht, mit ihr zu sprechen. Und heute hatte er sie zwar gerettet, war aber so schnell wie möglich von ihr geflohen – wie damals in Fécamp.
Sie zitterte nicht länger, weil jemand sie hatte töten wollen. Sie zitterte vor Enttäuschung und Wut.
Sprota hatte gelernt, dass es wenig Sinn hatte, Menschen ändern zu wollen. Dennoch beobachtete sie sie gern und hatte sich die Neugier auf sie bewahrt.
Mathilda machte es ihr schwer, diese Neugier zu befriedigen. Sprota kannte kaum jemanden, der so verschlossen war wie sie, nicht einfach nur wortkarg und schüchtern, sondern verbissen in
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