Kinder des Feuers
dem Trachten, sich von anderen Menschen abzuschotten. Heute zeigte sie zum ersten Mal, was in ihrem Innern vorging. Heute standen Gefühle in dem sonst so beherrschten Gesicht – Aufruhr und Empörung, Verletzung und Angst. Wenn sie gesprochen hätte, so hätte gewiss ihre Stimme gezittert, aber Gerloc hatte wie so oft das Wort an sich gerissen. Sie erzählte vom Tuchmarkt in Bayeux, von dem Unfall, der Mathilda beinahe zugestoßen wäre, von einem Mann … nein, einem Mönch, der sie gerettet hatte. Mathilda sei, seit sie ihn getroffen habe, nicht mehr dieselbe.
Jetzt begann auch diese zu reden. »Natürlich bin ich noch dieselbe!«
Die Schroffheit in ihrer Stimme konnte nicht verbergen, wie verletzt sie war.
»Lass uns allein«, sagte Sprota zu Gerloc, die sich ausnahmsweise fügte. Vielleicht war sie zu aufgewühlt oder aber einfach nur von ihren neu erstandenen Kostbarkeiten abgelenkt.
Sprota sah Mathilda an. »Ein Unfall?«, fragte sie mitfühlend.
»Wenn es denn einer war …«
Mathilda wandte sich ab, aber stockend kamen nach und nach mehr Worte aus ihrem Mund, Worte, die in Sprotas Ohren wirr klangen. Von ihrer Vergangenheit und Herkunft, die im Dunkel lag, war die Rede, von der bretonischen und der dänischen Sprache, die sie beherrschte, ohne zu wissen, wer sie diese gelehrt hatte, von dem Unwissen, das ihr die Seele vergiftete … und, wie sich an diesem Tag gezeigt hatte, einen anderen dazu brachte, sie morden zu wollen.
Nicht, dass Sprota ihr nicht glaubte. Für sie stand seit langem fest, dass auf dieser Welt mehr Menschen lebten, die ihren Nächsten Übles wollten statt Gutes. Sie hatte sich jedoch angewöhnt, darüber nicht länger empört zu sein. »Und jener Mann, der dich gerettet hat?«, fragte sie leise.
»Er zählt nicht.«
Mathildas Lippen versiegelten sich, ihr Gesicht wurde wieder ausdruckslos, und kurz, ganz kurz glaubte Sprota in einen Spiegel zu sehen. Sie fühlte sich an eine Zeit erinnert, da sie noch nicht gelernt hatte, die Menschen zu nehmen, wie sie waren, und vom Leben nicht mehr zu erwarten, als es einem vor die Füßen legte. Die Zeit, da sie ein Mädchen war, eben noch Tochter angesehener Bretonen, einer uralten Familie, die viel Land besaß, dann die Tochter von Flüchtigen, die sich nie damit abfinden konnten, ihr Leben im Exil zu beschließen. Anders als Mathilda, die ein Rätsel ihrer Herkunft angedeutet hatte, hatte sie immer gewusst, woher sie stammte, aber dieses Wissen hatte weder ihr noch ihren Eltern Halt gegeben. Ihre Heimat war verloren, und sich an sie zu erinnern, sich nach ihr zu sehnen, bedeutete nicht, sie irgendwann wiederzusehen. Besser war es, die Sehnsucht zu verleugnen, die Erinnerungen zu unterdrücken, die Heimat als verloren hinzunehmen und sich eine neue zu suchen.
»Beschäftige dich nicht mit Dingen, die du nicht erklären kannst, und mit Geheimnissen«, riet sie Mathilda, »das macht den Kopf schwer und zieht ihn zu Boden, und wenn du mit krummem Rücken durch die Welt läufst, siehst du nichts von ihr.«
»Aber wenn mich doch jemand töten wollte!«
»Noch lebst du.«
In ihrem eigenen Leben hatte Sprota sich oft an diesem »Noch« festgehalten. Noch lebten sie und ihre Eltern, hieß es nach der Flucht. Noch war ihre Familie angesehen genug, um Graf Wilhelm offiziell vorgestellt zu werden. Noch war sie jung und hübsch genug gewesen, um ihm zu gefallen. Noch gab es nur sie, die ihm wenig später den Sohn geboren hatte – deshalb war sie noch seine Konkubine und konnte noch sehen, wie Richard aufwuchs. Vielleicht würde sich irgendwann alles wenden. Vielleicht würde er sie verstoßen, eine fränkische Adlige heiraten und eheliche Söhne zeugen oder ins Kloster gehen. Aber noch war keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.
»Wenn dieser Fremde es morgen erneut versucht …«, setzte Mathilda an.
»Wenn er es morgen versucht, hast du zumindest heute deinen Frieden vor ihm«, sagte Sprota. »Also nimm dieses Heute. Nimm immer das, was du bekommen kannst, fordere nicht mehr. So hab ich’s gehalten, und sieh, was aus mir geworden ist.«
Mathilda blickte endlich wieder hoch. Sie schien ihre Fassung wiederzufinden, während ihre eigene unerwartet wankte. Kurz fragte Sprota sich, was Mathilda tatsächlich sah, wenn sie sie anblickte. Eine gelassene, in sich ruhende Frau, die mit allen Menschen und allen Herausforderungen umgehen konnte? Oder insgeheim doch das verhärmte junge Mädchen von einst, das, ehe es sich den Grenzen des
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