Kinder des Holocaust
zu mögen –, war ihr keineswegs angenehm. Er hatte einen netten Hund, aber das war auch schon so gut wie alles, was an ihm nett war ...
Terry, der Hund! Das war eine Möglichkeit. Sie konnte sich an Terry lehnen, so daß es Bill möglich war, in den Hund zu schlüpfen, und dann wäre alles in bester Ordnung.
Aber das Leben von Hunden war kurz. Und Terry war schon sieben Jahre alt; soviel wußte sie von ihren Eltern. Ihnen zufolge mußte Terry um die gleiche Zeit geboren worden sein wie Edie und Bill.
Verflixt, dachte sie, so eine Geschichte zu entscheiden, fällt echt schwer, was soll ich nur machen, wenn Bill unbedingt nach draußen und Dinge sehen und hören möchte? Und dann stellte sie sich die Frage: Wen von allen Leuten, die ich kenne, hätte ich am liebsten in meinem Bauch sitzen? Und die Antwort lautete: ihren Vater.
»Möchtest du als Papi rumlaufen?« fragte sie Bill; aber Bill antwortete noch immer nicht. Er war noch von ihr abgewandt und beriet sich mit der schweigenden Mehrheit unter der Erde.
Ich glaube, überlegte sie, Mr. Tree wäre doch die beste Lösung, weil er auf dem freien Land bloß mit Schafen lebt und nur wenig Leute sieht, so wäre es nämlich leichter für Bill, dann bräuchte er nicht soviel darüber zu wissen, wie und über was man sich mit anderen Leuten unterhält. Er wäre bloß immer mit Terry und den vielen Schafen zusammen, und weil Mr. Tree jetzt sowieso verrückt ist, könnte es gar nicht besser kommen. Bill könnte jetzt mit Mr. Trees Körper viel mehr anfangen als Mr. Tree selbst, würde ich wetten, und das einzige, worüber ich mir wirklich Gedanken machen muß, ist die richtige Anzahl giftiger Oleanderblätter, die ich zu kauen habe – gerade genug, um ihn umzubringen, aber mich nicht. Kann sein, zwei Stück wären schon genug. Höchstens drei, nehme ich an.
Mr. Tree hat genau zur richtigen Zeit den Verstand verloren, befand sie. Er weiß es bloß noch nicht. Aber warten wir mal ab, bis er es merkt, dann wird er wohl gewaltig erstaunt sein. Vielleicht laß ich ihn noch für eine Weile in mir leben, bis er richtig kapiert hat, was mit ihm passiert ist. Ich glaube, das wäre ganz lustig. Ich habe ihn noch nie leiden können, auch wenn Mami viel von ihm hält, oder das sagt sie jedenfalls. Er ist schauderhaft. Edie bekam eine Gänsehaut.
Armer, armer Mr. Tree, dachte sie voller Vorfreude. Du wirst keine Versammlungen im Förstersaal mehr stören, denn du wirst nicht mehr dazu in der Lage sein, irgendwem was zu predigen, außer vielleicht mir, und ich höre dir nicht zu.
Wo kann ich das nur abziehen? fragte sie sich. Ich mach es heute noch. Ich werde Mami fragen, ob sie nach der Schule mit uns raus zu ihm geht. Und wenn sie nein sagt, sehe ich zu, wie ich selber hingelange, dieser oder der wird mich sicherlich ein Stück weit mitnehmen.
Die Glocke läutete zur Fortsetzung des Unterrichts, und gemeinsam mit den anderen Schulkindern kehrte Edie ins Gebäude zurück. An der Tür des Klassenzimmers, des einzigen Unterrichtsraums für alle Schüler von der ersten bis zur sechsten Klasse, wartete Mr. Barnes. »Warum so in Gedanken, Edie?« fragte er sie, als sie in zerstreuter Gemütsverfassung an ihm vorbeiging. »Was für bedeutsame Einfälle hast du heute?«
»Naja, erst habe ich an Sie gedacht«, antwortete sie gedehnt. »Aber jetzt ist's Mr. Tree.«
»Aha, ja«, sagte Mr. Barnes und nickte. »Du hast also davon gehört.«
Die anderen Kinder waren bereits ins Klassenzimmer gegangen, so daß die beiden nun allein an der Tür standen. »Mr. Barnes«, sagte daher Edie, »finden Sie nicht auch, Sie sollten mit dem aufhören, was Sie da immer mit meiner Mama machen? Es ist nicht richtig. Das sagt Bill, und er weiß Bescheid.«
Das Gesicht des Schullehrers wechselte die Färbung, aber er sagte nichts. Statt dessen kehrte er ihr den Rücken zu, betrat das Klassenzimmer und ging hinter sein Pult, noch immer dunkelrot im Gesicht. Habe ich mich etwa falsch ausgedrückt? fragte sich Edie. Ob er jetzt böse auf mich ist? Vielleicht muß ich später zur Strafe nachsitzen, und er wird womöglich auch Mami davon erzählen, und sie verhaut mir den Hintern.
Entmutigt setzte sie sich an ihren Platz und schlug das zerfledderte, brüchige, umschlaglose, so kostbare Buch mit dem Märchen Schneewittchen und die sieben Zwerge auf; das war der heutige Lesestoff der Klasse.
Bonny Keller lag auf dem feuchten, fauligen Laub im Schatten unter den alten Eichen und umarmte Hal Barnes, dachte
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