Kinder des Holocaust
geflohene Mütter. Sind die Türen zu? fragte er sich. Hat es schon angefangen? Er hatte angefangen; der Augenblick war da. Er schloß die Augen und begann laut zu beten, mit voller Kraft seiner Stimme, um sein Beten hören zu können. Aber er hörte es nicht.
»Lassen Sie doch das Gebrabbel«, sagte jemand – eine Frau – so dicht neben seinem Kopf, daß ihm davon das Ohr schmerzte. Er schlug die Augen auf; die Frau, eine Person mittleren Alters, starrte ihn böse an, als zähle nichts neben ihrer Beschwerde, als habe sich außer seinen zu lauten Stoßgebeten nichts zugetragen. Ihr gesamtes Interesse war nur darauf gerichtet, ihn zum Schweigen zu bringen, und das verblüffte ihn so sehr, daß er tatsächlich schwieg.
Ist das alles, was dich interessiert? fragte er sie in Gedanken, durch ihre Gegenwart außer Fassung geraten, durch die Entschiedenheit ihrer auf ihn gehefteten Aufmerksamkeit, die darin zum Ausdruck gelangte irrwitzige Engstirnigkeit. »Na gut«, sagte er zu ihr. »Sie blödsinnige Ziege«, sagte er, aber sie hörte ihn nicht. »Habe ich Sie vielleicht gestört?« fügte er unbeachtet hinzu; ihr Blick galt inzwischen jemand anderem, der sie angestoßen oder geschubst hatte. »Entschuldigen Sie vielmals«, sagte er. »Entschuldigen Sie, Sie blöde alte Krähe Sie ...« Er verwünschte die Frau, schimpfte und fluchte nun herum, statt zu beten, und das Herumwettern bereitete ihm wahrhaftig weit mehr Erleichterung als das Beten; es gab ihm viel mehr.
Und da, mitten in seiner Flucherei, hatte er eine absonderliche, aber äußerst lebhafte Eingebung. Der Krieg war ausgebrochen, man bombardierte sie, und wahrscheinlich mußten sie sterben, aber es war Washington, das sie bombardierte, nicht die Chinesen oder die Russen; mit dem automatischen Abwehrsystem draußen im Weltraum war irgend etwas schiefgegangen, und es verschoß seine Sprengköpfe in die verkehrte Richtung – und niemand war dazu imstande, es zu verhindern. Es war Krieg, und der Tod kam, ja, aber alles nur infolge eines Fehlers; es stak dahinter keine Absicht. Er verspürte keine Feindseligkeit gegenüber den Kräften, die dort hoch über ihnen walteten. Sie kannten keine Bösartigkeit, besaßen keinerlei Motivation; sie waren seelenlose, gefühllose, jeglichen Innenlebens bare Apparate. Es war genauso, als hätte sein eigenes Auto ihn überfahren: Wirklichkeit, aber ohne Sinn. Dies hatte nichts mehr mit Politik zu schaffen, war bloß noch Versagen und Zusammenbruch, zufälliges Unheil.
In diesem Moment fühlte er sich gänzlich frei von allem Haß und jedem Vergeltungswillen gegen irgendeinen Feind, weil er sich den Begriff ›Feind‹ nicht mehr vorstellen konnte; er vermochte ihn nicht länger zu fassen und glaubte nicht im mindesten an ihn. Ihm war zumute, als habe sein letzter Patient – Mr. Tree oder Dr. Bluthgeld oder wer er auch gewesen sein mochte – all diese Vorstellungen in sich aufgenommen, sie aufgesaugt und an ihrer Stelle nichts zurückgelassen. Bluthgeld hatte Stockstill in einen anderen Menschen verwandelt, in einen Mann, der nicht einmal in dieser Stunde noch derartige Gedankengänge hegen konnte. Durch seinen Wahnsinn hatte Bluthgeld das F eindbild unglaubwürdig gemacht.
»Wir wer'n zurückschlagen, wir wer'n zurückschlagen«, gab in Dr. Stockstills Nähe ein Mann in ständigem Sprechsingsang kund. »Wir wer'n zurückschlagen.« Erstaunt sah Stockstill ihn an, fragte sich, gegen wen er wohl zurückzuschlagen beabsichtige. Gegenstände fielen auf sie herab. Hatte der Mann etwa vor, aus Rache seinerseits irgendwie hinauf an. den Himmel zu stürzen? Gedachte er die Naturgesetze umzukehren, die da wirkten, so wie wenn man die Szene eines Films rückwärts ablaufen ließ? Was für eine sonderbare, widersinnige Idee. Es kam ihm vor, als wäre der Mann unter den Einfluß des Unbewußten geraten. Er führte keine lebendig-rationale, vom Ich bestimmte Existenz mehr, sondern war von einem Archtypus überwältigt worden.
Es ist das Unpersönliche, das uns angreift, dachte Dr. Stockstill. Das ist es; innerlich und äußerlich greift es uns an. Das ist das Ende des Zusammenhalts, des Zustands, in dem wir uns aneinander zu halten pflegten. Jetzt findet die Atomisierung statt. Vereinzelung ohne Fenster. Zusammenprall ohne einen Laut, nur allgemeines Raunen.
Er streckte sich die Finger in die Ohren und versuchte, die Geräusche, die von ringsherum auf ihn eindrangen, zu mißachten. Absurderweise schienen die Geräusche unter ihm
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