Kinder des Holocaust
und Tiere, die als Fleischlieferanten dienten, wie Wild und Schafe, gab es kaum noch. Wie jeder wußte, war es viel günstiger, einen Morgen Land zum Heranziehen von Gemüse oder Getreide zu verwenden. Ringsum sah er dicht mit Mais bepflanzte Geländestreifen – dabei handelte es sich um eine Hybride, die früh reifte –, zwischen denen große, haarige Kürbisgewächse mit sonderbaren gelben Kürbissen in der Größe von Bowlingkugeln gediehen. Das war eine ungewöhnliche Kürbisart aus dem Osten, die man mit Schale und Kernen, mit buchstäblich allem verzehren konnte; einst hatte man sie in den Tälern Kaliforniens geringgeschätzt ... aber das war jetzt Vergangenheit.
Voraus lief eine kleine Schar Kinder auf dem Weg zur Schule über die wenig befahrene Landstraße. Eldon Blaine bemerkte ihre zerfledderten Bücher, ihre Frühstücksbeutel, hörte ihre Stimmen, dachte bei sich, wie tröstlich es doch war, anderer Leute Kinder gesund und munter zu sehen, anders als das eigene Kind. Falls Gwen starb, würde es immer noch andere Kinder geben. Damit fand er sich gleichmütig ab. Man lernte so etwas heutzutage. Man mußte es.
Die Schule stand rechts von der Straße in der Mulde zwischen zwei Hügeln; zum Großteil bestand sie aus den Überbleibseln eines modernen einstöckigen Gebäudes, ohne Zweifel erst kurz vor dem Krieg von ebenso ehrgeizigen wie sozial eingestellten Bürgern gebaut worden, die sich bis in ein neues Zeitalter der Entschuldung hinein verschuldet hatten, ohne zu ahnen, daß sie nicht mehr lange genug leben sollten, um ihre Schulden begleichen zu können. Ohne es darauf angelegt zu haben, waren die Leute kostenlos an ihre Grundschule gelangt.
Die Fenster nötigten ihm ein Lachen ab. Sie waren aus Teilen aller Arten alter ländlicher Bauten zusammengezimmert worden, anfangs hatte man sie winzig gemacht, später groß und größer; Bretter hielten sie am vorgesehenen Platz, an denen man noch kunstvolle Schnitzereien sehen konnte. Natürlich waren die ursprünglichen Fenster augenblicklich hinweggefegt worden. Glas, dachte er. So selten in der heutigen Zeit ... Wer Glas in irgendeiner Form besitzt, ist reich. Beim Weitergehen faßte er seine Aktenmappe fester.
Mehrere Kinder blieben stehen, als sie einen fremden Mann sahen, um ihn anzugaffen, teils ängstlich, teils neugierig. Er grinste ihnen zu, fragte sich, was sie wohl lernten und was für Lehrer sie hatten. Eine steinalte, senile Studienrätin, die man aus dem Ruhestand zurückgeholt und wieder hinter ein Pult gesetzt hatte? Einen Einheimischen, der irgendeinen College-Abschluß vorweisen konnte? Oder höchstwahrscheinlich unterrichteten einige der Mütter selber, hatten sich zu diesem Zweck zusammengefunden, ausgestattet mit einem kostbaren Armvoll Bücher aus der örtlichen Bibliothek.
Hinter ihm rief eine Stimme etwas; sie gehörte einer Frau, und als er sich umdrehte, hörte er auch das Gequietsche eines Fahrrads. »Sind Sie der Brillenmann?« rief sie noch einmal; sie wirkte streng und doch attraktiv, besaß schwarzes Haar, trug ein Baumwollhemd, das wohl von einem Mann stammte, und eine Jeans; sie trat die Pedale und folgte ihm auf der Straße, und mit jeder Unebenheit tat das Fahrrad einen Hopser. »Warten Sie bitte. Ich habe eben mit Fred Quinn gesprochen, unserem Apotheker, und er hat mir erzählt, daß Sie vorbeigekommen sind.« Sie erreichte ihn und stoppte ihr Fahrrad, schnappte nach Luft. »Seit Monaten war kein Brillenmann hier. Warum kommen Sie nicht häufiger?«
»Ich bin nicht zum Verkaufen hier«, antwortete Eldon Blaine. »Ich bin unterwegs, weil ich einige Antibiotika suche.« Er empfand Gereiztheit. »Ich muß nach Petaluma«, fügte er hinzu, und da merkte er, daß er voller Neid ihr Fahrrad anstarrte; er wußte, daß man seiner Miene den Neid ansah.
»Wir können sie Ihnen besorgen«, sagte die Frau. Sie war älter, als er auf den ersten Blick angenommen hatte; ihr Gesicht hatte Fältchen und war leicht dunkel, und er mutmaßte, daß sie fast vierzig sein mußte. »Ich gehöre hier in West Marin zum Planungsausschuß, der sich um die Belange der Allgemeinheit kümmert. Ich weiß, daß wir bestimmt auftreiben können, was Sie brauchen, wenn Sie bloß so freundlich wären, mitzukommen und zu warten. Lassen Sie uns zwei Stunden Zeit. Wir brauchen mehrere Brillen ... So ohne weiteres gehen Sie mir hier nicht weg.« Ihre Stimme klang fest und humorlos.
»Sie sind doch nicht etwas Mrs. Raub, oder?« erkundigte sich Eldon
Weitere Kostenlose Bücher