Kinder des Mars
einer der vier apokalyptischen Reiter und später der römische Gott des Krieges. Wann wirst du dir das endlich eingestehen?«
»Ich habe es nie geleugnet. Aber wir sind auch Nachfahren der Venus, Göttin der Liebe und Schönheit. Ganz zu schweigen von unserer Mutter, Viva, der Lebensspenderin. Im Übrigen ist unser Großvater nicht mehr der verantwortungslose Hitzkopf, der er einst war. Er führt nicht länger Söldnerheere, sondern einen Clan, der zum größten Teil aus Mitgliedern seiner eigenen Familie besteht. Darum denkt er nun nach, bevor er handelt. Das solltest du auch.«
»Mars ist alt geworden, das ist alles. Großvater ist heute mehr Politiker als Krieger und redet, statt zu kämpfen. Aber er weiß, was mein Name bedeutet, und er gönnt mir meine Jugend.« Victoria betrachtete ihre rot lackierten Fingernägel. »Er findet es in Ordnung, dass ich mich austobe, wie er es früher getan hat.«
Vivian schüttelte den Kopf. »Nein, das tut er nicht, doch wie jeder Großvater lässt er seinem Lieblingsenkel alles durchgehen.«
»Du bist bloß neidisch«, stichelte Victoria.
»Keineswegs. Du bist ein dummes Kind, das impulsiv handelt und nie über die Konsequenzen nachdenkt. Meine Aufgabe besteht darin, hinter dir und deinesgleichen aufzuräumen. Ich sorge für Ordnung in dem Chaos, das du hinterlässt.«
»Es macht dich glücklich, meine Putzfrau zu sein«, sagte Victoria verächtlich.
»Wenn du es so nennen willst«, meinte Vivian ruhig. »Ich würde eher sagen, ich versuche die Wunden zu heilen, die du schlägst. Du glaubst, dein Name berechtigt dich dazu, stets die Siegerin zu sein und alles zu bekommen, was du willst. Dabei gehst du über Leichen. Hast du je daran gedacht, was du anderen antust, und dass sie auf Rache sinnen könnten? Ich lindere das Leid, das du anrichtest, und verwische deine Spuren. Ich erfülle meine Rolle als große Schwester, indem ich dich dadurch beschütze. Eines Tages wirst du das zu schätzen wissen.«
Victoria hatte Vivian den Rücken gekehrt. Sie lief an dem Tiger vorbei zum Fenster. Die mächtige Raubkatze erhob sich und beobachtete, wie die Zweibeinerin das Fenster öffnete. Victoria sprang geschmeidig auf den Sims und verharrte in lauernder Hockstellung, während sie sich noch einmal zu Vivian umdrehte. »Na klar. Weißt du, was ich im Moment wirklich zu schätzen weiß? Dass du auf mein Haustier aufpasst.« Mit diesen Worten verschwand sie.
»Halt!« Vivian lief zum Fenster.
Doch Victoria war schon weg. Vivian fluchte und sah den Tiger an. »Zu dumm, dass ich dich in New York nicht einfach aussetzen kann. Also gut, bleib, bis sie wieder da ist. Aber wehe du pinkelst auf den Teppich.« Sie schalt sich selbst dafür, dass sie mit der Großkatze redete, die sie nicht verstehen konnte. Natürlich wird er meinen Teppich ruinieren , dachte sie. Was soll er auch sonst tun? Nicht, dass mir an dem Teppich etwas liegt, aber dann stinkt es hier wie in einem Raubtierkäfig im Zoo oder Zirkus.
Sei unbesorgt, ich bevorzuge die frei Natur. Da wir gerade dabei sind, würdest du mich bitte doch aussetzen? Wartend sah der gestreifte Tod sie an.
Vivian traute ihren Ohren nicht, oder besser gesagt, der Stimme in ihrem Kopf. Doch sie war zu erfahren, um die Stimme zu ignorieren oder als Einbildung abzutun. Jemand hatte Gedanken gesendet und so mit ihr kommuniziert. Es wäre zwar theoretisch möglich, dass dieser jemand sehr weit weg war, aber sie wusste instinktiv und zweifelsfrei, dass er direkt vor ihr stand. Vivians Pupillen weiteten sich in grenzenloser Verwunderung während sie in Augen blickte, die ebenso grün wie ihre eigenen waren.
»Oh Gott!« entfuhr es ihr.
Ja, so nannten mich die Griechen auch einst. Die Schnurrhaare des Tigers vibrierten leicht, sonst rührte er sich nicht und sah Vivian weiter an.
Vivian gewann schnell die Fassung wieder. Es war nicht das erste Mal, dass sie Ares begegnete. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass Mars den Tiger schicken würde, oder dass er überhaupt Victoria misstraute. Offenbar hatte sie die Weisheit und die Kriegslist ihres Clanoberhaupts unterschätzt. Mars ließ Victoria also doch nicht alles durchgehen, zumindest erlaubte er ihr nicht, ohne Aufpasser die Welt unsicher zu machen.
Es ist schön, dich wiederzusehen. Nicht viele benutzen ausschließlich Gedankenaustausch zum kommunizieren. Vivian sprach dies nicht laut aus, es war nicht nötig.
Ein bestätigendes Grollen drang aus der Kehle des Tieres. Das ist einfacher und
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