Kinder des Mars

erwiderte ernst: » Ich kenne niemanden mit diesem Namen. Da musst du Vivian fragen. Ihr Bekanntenkreis ist sehr groß, außerdem ist sie viel älter als ich.«
    Jack drehte sich zu Victoria und sah ihr ins Gesicht. Sie meinte das alles ernst. Entweder gehörte sie in die Psychiatrie oder es gab tatsächlich Unsterbliche. Letzteres hatte das Potential, Jacks gesamte Welt umzukrempeln. Irgendwie schockierte ihn das nicht einmal sonderlich. Seine Welt stand seit Tagen Kopf. Genau genommen sogar schon seit vier Jahren. Jack hatte nie geglaubt, dass seine Mutter die Treppe hinunter gefallen war. Sie kannte das Haus in- und auswendig, jede Fliese, jede Bodendiele, jede Treppenstufe.
    George und Ginger waren beide ermordet worden. Gingers Tod war offiziell als Unfall deklariert worden, und auch bei George war die Idee, dass jemand ihn töten wollte, absurd. Allerdings gab es dafür immerhin Zeugen.
    Jack wurde klar, dass mit seiner Familie etwas nicht stimmte. Offenbar gab es so einiges, das er nicht über seine Eltern wusste. Unsterblichkeit konnte er ausschließen, doch etwas war faul, und er hatte keinen blassen Schimmer, was. Victoria schien über ihre Familie wenigstens Bescheid zu wissen. So absurd ihre Geschichte auch klang, sie war nicht verrückter als die Tatsache, dass Jacks Eltern umgebracht worden waren. Die Details mochten nicht stimmen, doch Jack beschloss, Victorias Version fürs erste zu akzeptierten und mitzuspielen.
    » Mars ist also euer Familienoberhaupt?« fragte er, um sicher zu gehen, dass er sich nicht verhört hatte.
    Victoria lachte. » Ja!« bestätigte sie. » Unser Anführer.«
    » Klingt nach Mafiastrukturen.«
    » Unsinn!« Sie strich sich die langen weißblonden Haare aus dem Gesicht und warf sie über die Schulter. „Für mich ist er einfach mein Großvater. Darf ich die Speisekarte auch mal haben?«
    » Was?«
    » Die Karte, bitte.« Fordernd streckte Victoria die Hand aus. » Ich bin hungrig. Soll ich für dich mitbestellen?«
    Jack reichte ihr die laminierte Auflistung der Snacks und Getränke. » Nein.«
    » Warum hast du sie dann gelesen, wenn du nichts bestellen willst?«
    » Weil ich Hunger habe, aber ich kann für mich selbst bestellen, vielen Dank«, sagte Jack. » Hast du gerade Mars als deinen Großvater bezeichnet?«
    » Ja, und Venus ist meine Großmutter«, antwortete Victoria, als sei das selbstverständlich.
    » Oh Gott!« entfuhr es Jack. Da hatte er sich ja was schönes eingebrockt.
    » Bitte, du darfst ruhig Victoria zu mir sagen. Das mit dem Gott spielen haben meine Großeltern lange vor meiner Geburt aufgegeben. Ich stamme zwar von ihnen ab, bin aber keine Göttin.« Sie griff über Jack hinweg nach dem Telefon. » Was darf ich bestellen?«
    » Toast Hawaii und Eier mit Speck«, informierte Jack sie automatisch, weil es das war, worauf er gerade Appetit hatte. Er hatte vergessen, dass er selbst bestellen wollte, um wenigstens ein Mindestmaß an Kontrolle zu behalten. Etwas anderes erschien ihm viel wichtiger: » Wie alt bist du?«
    Victoria wählte die Nummer des Zimmerservice und lauschte dem Klingeln. » 217 Jahre.«
    Jack stieß einen leisen Pfiff aus. » Dafür hast du dich gut gehalten.«
    » Und werde es auch noch die nächsten 100.000 Jahre.« Sie lachte leise. » In meiner Familie bin ich die jüngste Unsterbliche.« In der Leitung klackte es, am anderen Ende hatte jemand abgenommen. » Hallo, eine Flasche Champagner, ein Dutzend Austern, einen Hawaii-Toast und Eier mit Speck.« Nach einem Moment fragte sie Jack: » Welche Zimmernummer?«
    » Zimmer 208«, gab er zurück. » Das wüsstest du, wenn du nicht über den Balkon herein gekommen wärst.«
    Victoria wiederholte die Nummer für den Zimmerservice und legte auf.
    » Wie hast du das eigentlich gemacht?« erkundigte sich Jack. » Können Unsterbliche fliegen wie Vampire?«
    Victoria kniff die Augen zusammen. »Du bist nah dran. Zu nah. Ich hatte gehofft, erst später darüber reden zu müssen.« Sie seufzte. » Wir sind keine Vampire, jedenfalls nach keiner gängigen Definition der Menschen, aber wir haben die Kreaturen der Nacht erschaffen. Die Unsterblichen sind für die Existenz von Vampiren verantwortlich. Sie haben also unsere Kräfte, nicht umgekehrt. Nur wenige von uns können fliegen, aber wir sind sehr stark . Ich hätte auch an der Fassade hochklettern können, doch ein kräftiger Sprung hat ausgereicht. Ein Vampir bin ich deswegen nicht. Ich wurde geboren und bin aufgewachsen wie du, na ja, mehr