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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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eine Panzerdivision mitten in einer Offensive heranrollen, eine endlose Prozession, die immer noch mehr Abfall herankarrt. Wenn er an seinem Bestimmungsort angekommen ist, betätigt der Fahrer die Hydraulik, und während sich die Ladefläche zu heben beginnt, richten sich Hunderte von Blicken nach oben und verfolgen, wie sich der Unrat in Bewegung setzt, hinabgleitet und schließlich zu Boden fällt. Mit |79| einem Ruckeln entledigt sich der Lkw der letzten Reste, und jetzt ist ihr Moment gekommen: Alle stürzen sich auf den Müll.
    Ein Junge mit brauner Haut, schlecht geschnittenen Haaren, zerschundenen Füßen und ungleichen Ohren wühlt im Abfall. Er trägt ein ehemals weißes, vom Dreck geschwärztes Hemd und kurze Hosen. Schuhe hat er keine an den Füßen. In einer Hand hält er einen Metallhaken, mit dem er sich einen Weg durch den Müll bahnt wie durch einen Dschungel, in der anderen einen Sack, in den er die kleinen Schätze steckt, auf die er stößt: der Kopf einer zerstückelten Puppe, ein Metallbeschlag, eine leere Coca-Cola-Flasche, eine alte Zeitung mit Nachrichten über die jüngsten Fortschritte der Regierung bei der Armutsbekämpfung… Jedes Mal, wenn ein Lastwagen ankommt, versucht er, sich unter die Menge der Müllsammler zu mischen, doch ein ums andere Mal wird er von den Älteren weggeschubst. Er setzt sich, wartet, bis die anderen fertig sind, und sucht dann selbst unter den Resten der Reste. Ich frage ihn nach seinem Namen.
    »Reneboy«, antwortet er. »Ich bin der Sohn von Fe und Edelberto.«
    Reneboy ist zehn Jahre alt (tatsächlich wirkt er wie sieben). Er ist das achte von zehn Kindern. Zehn Kinder sind an jedem Ort der Welt eine Menge, doch nicht so auf den Philippinen mit ihrem allmächtigen Kardinal Sin und Präsident Joseph Estrada. Ersterer stellt sich seit Jahrzehnten jeder Geburtenkontrolle in seinem Land in den Weg, wo jeden Tag 4 000 Kinder zur Welt kommen, von denen die Hälfte das Heer der Armen weiter anschwellen lässt. Letzterer wurde kürzlich gefragt, warum es ihm nicht gelinge, eine Politik der Geburtenkontrolle umzusetzen, woraufhin er erwiderte, dass auch er selbst aus einer kinderreichen Familie stamme und mit einem Programm zur Geburtenkontrolle niemals das Licht der Welt erblickt hätte. Was Estrada nicht sagt, ist, dass den Philippinen in diesem Fall ein trunksüchtiger, korrupter Schürzenjäger als Staatsoberhaupt erspart geblieben wäre. Estrada – »Präsident 10 Prozent«, wie er genannt wird, weil er staatliche Konzessionen |80| nur vergibt, wenn er 10 Prozent Bestechungsgeld erhält –, zelebriert die Zusammenkünfte seines so genannten »Mitternachtskabinetts« als große Gelage, die bis in die frühen Morgenstunden dauern und einmal dazu führten, dass in der Runde Zweifel an der Wichtigkeit seines Beraters Aprodicio Laquian laut wurden, da dieser als einziges Regierungsmitglied bei der Erörterung der Staatsangelegenheiten nüchtern geblieben war.
    So kommt es, dass Reneboy jeden Tag zur selben Stunde aufsteht, in der sich sein Präsident zur Nacht bettet, so gegen vier Uhr morgens. Er nimmt seinen Haken und seinen Sack und sucht nach Abfall, bis der Sack vollständig gefüllt ist, weiß er doch, mit welcher Frage ihn seine Mutter am Ende des Tages stets erwartet: »Hast du den Sack gefüllt, Reneboy?«
    Und wenn der Sack nicht ganz voll ist, schickt sie ihn zurück auf die Müllhalde, um noch etwas mehr von dem Nichts zu holen. Er darf sich erst wieder zu Hause blicken lassen, um seine tägliche Mahlzeit zu erhalten – die einzige –, wenn er sein Tagewerk vollbracht hat. Reneboy weiß nicht, wie sich ein voller Bauch anfühlt. Hier mal ein bisschen Reis, vielleicht etwas Hühnchen zu Weihnachten, doch nie hat er auch nur annähernd das Gefühl, sagen zu müssen: »Genug, ich krieg keinen Bissen mehr runter.« Immer ist noch Platz in seinem Magen, ohne dass etwas da wäre, was ihn füllen könnte. Er setzt sich auf den Boden und akzeptiert, was es gibt. Er protestiert nicht, blickt auf den Teller seiner Schwester und wendet sich dann an seine Mutter, als müsse er um Entschuldigung bitten, dass es auch für sie nicht reicht: »Mama, morgen werde ich viel arbeiten«, verspricht er, um Fes Zustimmung heischend. »Ja, Reneboy, morgen…«
    Fe und Edelberto Chale kamen 1995 in das Gelobte Land. Sie hatten in Taylan auf der Insel Mindanao, wo Muslime für die Schaffung eines islamischen Staates kämpfen, seit die Spanier an ihrer Küste gelandet und die

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