Kinder des Monsuns
dem, was ich damit verdienen werde, bezahlen wir unserem Sohn eine Ausbildung, und meine Frau wird sich die Kleider kaufen können, die sie haben will. Sie wird sich daran gewöhnen müssen, einen Haufen Kinder im Haus zu haben, aber der Geschäftserfolg ist garantiert!«
Wir mieten ein Auto und fahren zum Gelobten Land. Es fehlt nicht an Wegmarken. Kurz bevor wir ankommen, dringt ein beißender Geruch durch das Fenster, die Luft riecht plötzlich nach verfaultem Fisch. Es ist ein derart bestialischer Gestank, dass er den anderen, vorhersehbareren Geruch überdeckt, den man sich hier erwartet: den Verwesungsgeruch der Hunderte Toten, die |77| noch unter dem Müll begraben liegen. Der Gestank ist so stark, dass er in die Nasenhöhlen dringt und sich dort einnistet, er raubt einem alle Sinne und bleibt noch Stunden, ja sogar Tage, nachdem man ihn hinter sich gelassen hat, im Hirn haften. In Wirklichkeit ist es kein einzelner Geruch, sondern eine Mischung der übelsten Gerüche, die man sich denken kann; zusammen bilden sie das, was als ein einziger, unerträglicher Gestank erscheint. Es ist der Gestank des Elends.
Es sind kaum 24 Stunden seit dem Unglück vergangen, doch die Bewohner von Payatas haben sich schon wieder an die Arbeit gemacht, ohne noch genau zu wissen, was aus ihren Freunden, Nachbarn oder Angehörigen geworden ist. Die Betriebsamkeit auf der Müllhalde ist kein Beweis mangelnden Respekts gegenüber den Toten, sie zeigt nur, wie verzweifelt die Lebenden sind. Wenn man einen Dollar pro Tag zum Überleben braucht, gibt es nichts, was einen dazu bringen kann, auf diesen Dollar zu verzichten, man muss ihn ergattern, was auch geschieht, andernfalls gibt es nichts zu essen – oder, schlimmer noch, die eigenen Kinder müssen hungern. Die Toten brauchen ihren täglichen Dollar nicht mehr, die Hinterbliebenen aber sehr wohl.
Das Gelobte Land ist mit keinem anderen Ort der Welt vergleichbar, den ich je gesehen habe, nicht einmal mit anderen Mülldeponien, wo Zwangsumgesiedelte hausen. Es ist wortwörtlich eine Stadt aus Müll, die aus Schrott errichteten Hütten stehen auf den Hängen großer Abfallberge. Stetig neu aufgeschüttete Dosen, Flaschen, Reifen, Plastikverpackungen, gebrauchte Rasierer, alte Zeitschriften, Schwarzweißfernseher – wer will schon noch einen Schwarzweißfernseher? –, verrostete Waschmaschinen und Tausende von Utensilien, die der großen Stadt nicht mehr von Nutzen sind und bereits durch andere ersetzt wurden (die ebenfalls früher oder später an diesem Ort landen werden), lassen die Berge in die Höhe wachsen. Sie bilden kleine Täler und Senken, Hügel und Pfade. In einem Winkel steht eine Schule, etwas weiter liegen ein Basketballplatz, die Kirche, ein Markt voller von Fliegenschwärmen |78| angefressener Fische, und alles, absolut alles liegt perfekt eingerichtet in einer riesigen Landschaft aus Müll. Wer Platz hat, ein paar Hühner zu halten, hat aus altem Matratzendraht ein Gehege gebaut, andere haben aus Lumpen Vorhänge für ihre Hütten improvisiert, und die Kinder benutzen Mülltonnendeckel und die Rollen von Einkaufswagen, um die Hänge hinunterzuschlittern. Nichts bleibt in dieser Stadt der Reste übrig.
Wir haben uns einen Atemschutz gegen Keime und Krankheitserreger gekauft, oder vielleicht auch einfach nur, um uns vor der Armut zu schützen. Die Regierungsbeamten und einige Journalisten, die vor uns angekommen sind, tragen sie auch. Raymond meint, dass wir unsere im Wagen lassen sollten. »Stell dir vor, du lädst mich in dein Haus ein, und ich erscheine im Schutzanzug, wie die Leute, die in dem Film von Spielberg ET abholen kommen. Diese Menschen leben hier jeden Tag, wir sind bei ihnen zu Hause, auch wenn es uns wie ein Schweinestall vorkommt.«
Wir lassen die Masken zurück.
Vor uns erheben sich eindrucksvoll riesige Berge aus Müll. Wir steigen den Hang hinauf und sacken mit jedem Schritt ein bisschen tiefer in den schlammigen Unrat. Erst oben, vom Gipfel dieses Müllmatterhorns aus, wenn der Blick zum Horizont schweift, erschließt sich die Bedeutung dieses Ortes. In der Ferne sieht man an klaren Tagen die große Stadt. Sie scheint gar nicht so weit entfernt, und trotzdem ist sie für die Leute um uns herum, die barfuß und dreckverschmiert im Abfall wühlen, der Mars, ein unerreichbarer Planet, dem sie kaum je Beachtung schenken. Ihre einzige Verbindung zu dieser entfernten Welt ist die Lehmpiste, auf der die Lastwagen in einer nicht abreißenden Kette wie
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