Kinder des Monsuns
du kriegst die Schuhsohle, wenn du mir die beiden Dosen gibst, alles, damit jeder von ihnen das anhäuft, was den Käufer, der ihre Ware nach Wiederverwertbarem durchstöbert, am meisten interessiert. Immer weitere Müllwagen treffen ein, und mit ihnen steigt die Zahl der Müllsammler. Zur Mitte des Morgens hin ist das Müllmatterhorn unter einer unerträglichen tropischen Sonne vollständig eingenommen, und alles wird viel schwieriger. Kaum etwas, das auch nur den geringsten Wert hat, bleibt zurück, und der Arbeitstag zieht sich bis fast zur Abenddämmerung hin. Erst jetzt glaubt Reneboy, genug gesammelt zu haben.
Erschöpft, barfüßig, mit zerschundenen Beinen betritt er die kleine Hütte, die Edelberto aus ein paar Brettern gezimmert hat. »Reicht das?«, fragt er, öffnet den Sack und zeigt den Schatz des Tages vor. Seine Mutter setzt sich, er sucht sich einen freien Platz zwischen seinen Geschwistern und seinen Eltern und sinkt zu Boden. Das Kleinste der Familie, ein wenige Monate altes Baby, schläft in einem Weidenkorb, der in der Luft hängt, damit die Ratten es nicht fressen. Reneboy betet ein Vaterunser und schließt die Augen. Auch das kennt er nicht: was es heißt, genügend Schlaf zu bekommen und so lange im Bett zu bleiben, bis die Sonne aufgeht.
Um Mitternacht kehren die Müllwagen mit dem letzten und besten Abfall Manilas zurück. Das Heulen ihrer Motoren, das die Ankunft des Unrats verkündet, ist bis in die Hütte der Familie an der Ostflanke des Müllmatterhorns zu hören. Jetzt, in der Dunkelheit des frühen Morgens, ist der Augenblick, wo es den Anschein hat, als wollte das Gelobte Land seinem Namen wirklich Ehre machen. Mit Laternen durchsuchen die Müllsammler im Halbdunkel den Abfall, und man sieht Dutzende von leuchtenden Punkten, die wie Glühwürmchen von einem Ort zum anderen tanzen und wie ein bewegtes Sternbild im Universum des Unrats wirken. Bei |84| Tagesanbruch wird alles wieder Misere, doch einige Stunden lang wähnen sich Edelberto und Fe an einem anderen Ort.
»Manchmal stehe ich mitten in der Nacht auf«, sagt Fe, »und denke, dass es hier sogar schön sein kann.«
*
In seinen Träumen sieht sich Reneboy einen der Müllwagen fahren. Er durchquert das Gelobte Land und drückt auf die Hupe, damit alle Welt weiß, dass er für sie etwas mitgebracht hat. In seinen Träumen geht er nie von diesem Ort fort. Warum sollte er? Er ist hier aufgewachsen und lebt in der einzigen Welt, die er kennt. Der Geruch des Mülls, der mit den Regenfällen des Monsuns selbst für diejenigen, die schon am längsten dabei sind, unerträglich wird, hat sich wieder normalisiert. Er erinnert sich, dass ihn sein Vater einmal in die große Stadt mitgenommen hat, das Zentrum, doch da hat es ihm nicht gefallen. Niemand kennt sich dort, niemand bleibt stehen, um zu reden, niemand schaut die anderen an.
Es klingt absurd: Im Gelobten Land ist es leichter, glückliche Menschen zu finden, als in vielen der Finanzzentren und den Orten des Überflusses auf der Welt. Niemand fühlt sich hier allein, die Häuser stehen den Nachbarn immer offen, die Probleme sind die von allen oder von niemand, der Ort verströmt die soziale Wärme der philippinischen Armenviertel. Dass die Kinder krank werden, dass die Lebenserwartung der Erwachsenen 45 Jahre nicht übersteigt und dass man zwischen Ratten schlafen muss, gehört für die Mehrheit zum Leben dazu, es reicht, einige Monate auf der Müllhalde zu leben, um zu vergessen, dass es auch anders sein könnte.
Das Leben im Gelobten Land ist Überleben, und die Ambitionen der Menschen haben sich daran angepasst. Deshalb liegt das Glück näher. Es besteht nicht im neusten Sport oder in einem Haus mit Swimmingpool, das eigene Streben lässt sich nicht von dem leiten, was die anderen haben. Es geht auch nicht um die Erreichung |85| eines Ziels, an dessen Stelle sofort ein neues tritt, nur eine weitere Etappe auf einer Reise Richtung Unzufriedenheit, auf die sich die Menschen jenes anderen Planeten, der großen Stadt, begeben haben. Das Glück im Gelobten Land ist eine warme Mahlzeit, ein gesund aufwachsendes Kind, eine Zusammenkunft der Nachbarn am Abend. Man kann es beinahe mit Händen greifen.
Nein, Reneboy malt sich kein besseres Leben aus. Er träumt nicht von dem Stück Land mit einem Häuschen darauf und einer Arbeit wie einst sein Vater, der dafür seine Geburtsinsel Mindanao verließ. Vielleicht wird der Sohn mit der Zeit die Träume Edelbertos erben und sich von ihnen
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