Kinder des Monsuns
sagen sollen. Auch Mädchen sind für die Taliban höchst beunruhigend, weil sie eines Tages Frauen sein werden. Die Abschaffung des Weiblichen muss daher schon in der Kindheit beginnen, bevor die Bedrohung Realität wird.
In Bamiyan ist die Kindheit ausgelöscht. Die Kinder lernen nicht, die Angst zu zerstreuen, sie zumindest ab und zu im Spiel oder beim Lernen zu vergessen … Nur der Lärm der Mörser, der |141| eine neue Offensive ankündigt, durchbricht die Eintönigkeit eines Landes, das im Namen eines der Götter der Menschheit besetzt gehalten wird – sind es dieses Mal die Rebellen, die sie vor den Taliban verteidigen, oder die Taliban, die sie, wie sie behaupten, vor den Rebellen schützen? Der Krieg hat dafür gesorgt, dass es für Mariam kaum noch einen Unterschied macht, wer den Distrikt gerade regiert. Sind es die Taliban, verbringt sie die Tage im Haus, hilft ihrer Mutter in der Küche und geht nur vor die Tür, wenn es unbedingt notwendig ist. Erringen die Rebellen wieder die Oberhand, verbringt sie ihre Zeit ebenfalls im Haus, denn alle Welt weiß ja, dass die Gegenoffensive der Regierung mit ihrem Granathagel nicht auf sich warten lassen wird. »Manchmal sind viele Tage vergangen, ohne dass wir das Haus verlassen konnten.«
Der Führer der Gläubigen, der einäugige Anführer der Taliban, hat seine frauenfeindliche Diktatur auf fast ganz Afghanistan ausgedehnt, doch ist es ihm nicht ganz gelungen, die Volksgruppen des Nordens und Minderheiten wie die Hasara oder die Sadat zu unterwerfen. Die Rebellen, die in Bamiyan noch Widerstand leisten, haben die Kontrolle des Distrikts Yakaolang (»schönes Land«) übernommen, wo Mariam Ende 2000 lebt, obwohl sie nur ein paar klapprige Waffen aus der Sowjetzeit haben. Wütend beschließen die Taliban daraufhin, die plattnasigen Hasara ein für alle Mal auszulöschen. Bei der Rückeroberung des Gebietes im Januar 2001 brennen sie alles nieder, und ihr Befehlshaber, Abdul Sattar, fordert den Kopf aller Männer des Feindes.
Es ist nicht immer ganz leicht, die Exekutionsopfer auszuwählen. Manchmal ist es zweifelhaft, ob ein Jugendlicher nicht doch eher noch ein Kind ist. Entdecken die Taliban Flaum in seinem Gesicht, nehmen sie ihn vielleicht mit, ist er dagegen klein und hat noch kindliche Gesichtszüge, besteht die Chance, dass sie ihn nicht als Bedrohung ansehen. Dasselbe gilt für die Alten. Das Leben in Afghanistan ist so hart, dass ein Mann mittleren Alters wie ein Greis von achtzig Jahren aussehen kann; andere haben eine derart robuste Konstitution, dass sie für ihr Alter noch ungewöhnlich kräftig sind.
|142| Die Auswahl läuft darauf hinaus, dass alle sterben müssen, die eine Waffe tragen können. Alles entscheidet sich binnen weniger Sekunden. Die Taliban kommen ins Haus und befehlen: »Du auf die Seite, du auf die andere.« Übrig bleiben zwei Gruppen von Dorfbewohnern, die einen, die erschossen werden, und die anderen, die zuschauen müssen, wie ihre Lieben hingerichtet werden. Einige der Männer, die in Nayak im Zentrum von Yakaolang verhaftet werden, führt man hinter das Krankenhaus der Hilfsorganisation Oxfam bei Shor Aab, bindet ihnen die Hände mit ihren eigenen Turbanen und erschießt sie der Reihe nach, sodass Brüder ihre Brüder, Väter ihre Kinder sterben sehen…
Die Taliban durchstreifen tagelang die Gegend von Nayak, immer auf der Suche nach Männern der Hasara, um sie zu exekutieren, bis sie zu dem Haus kommen, in dem Mariam mit ihren Eltern, Onkeln und drei Vettern wohnt. Den jungen und alten Männern bleibt genug Zeit, sich zu verstecken, während die Frauen in ihren Häusern reglos auf die Taliban warten. Als sie eintreffen, beteuern die Frauen, all ihre Männer seien im Krieg umgekommen, eine Ausflucht, die an jedem anderen Ort lächerlich geklungen hätte, nur nicht in Afghanistan, dem Land der Witwen.
»Wo sind sie?«, bellt der wütende Taliban-Kommandeur. Die Frauen schweigen.
»Wo stecken die Männer?«, herrscht einer der Soldaten sie an und schlägt eine von ihnen zu Boden.
Die Soldaten fangen an, die Frauen auszupeitschen. Durch die Schreie alarmiert, kommen die Männer aus ihren Verstecken. Die Taliban nehmen sie in Fesseln mit sich fort.
Drei Tage warten die Frauen auf ihre Rückkehr. Am vierten organisieren sie Suchtrupps und machen sich mit Decken und Lebensmitteln im Schnee auf die Suche nach ihren verschwundenen Vätern, Brüdern und Kindern, um sie, falls nötig, zu begraben. Mariam, ihre Mutter und ihre
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