Kinder des Monsuns
Zurück im Dorf, trinken sie selbst davon nur wenig und geben den Rest den Tieren, von denen ihr Überleben abhängt. Im ganzen Tal gibt es nur eine einzige alte Wetterstation, die in den letzten Jahrzehnten im Mittel etwas mehr als 100 Milliliter Niederschlag pro Jahr verteilt auf etwa zwanzig Regentage gemessen hat. In einer schlechten Saison, wenn Monate vergehen, ohne dass ein einziger Tropfen Regen fällt, kann man Mohamed Ayans Diktum wörtlich nehmen: Es regnet mehr Bomben als Wasser.
Den Hasara ist unbegreiflich geblieben, warum die übrigen Volksgruppen seit Urzeiten danach trachten, das Werk, das die Natur mit diesem lebensfeindlichen Klima so entschlossen zu |139| verfolgen scheint, zu vollenden. Ihre mongolischen Gesichtszüge, das Erbe eines Einfalls Dschingis Khans und seiner Horden, wie einige Historiker glauben, ihre geröteten Pausbacken, ihre glatte Haut und flachen Nasen, ihre mehrheitlich schiitische Glaubenszugehörigkeit in einem von Sunniten beherrschten Land: All dies führt dazu, dass die Hasara leicht zu identifizieren, auszusondern und zu eliminieren sind. Es gab kein Volk, das es auf dem Durchzug durch das Bamiyan-Tal nicht versucht hätte, und einigen wäre es beinahe geglückt.
Die Letzten, die danach trachteten, die Hasara auszulöschen, waren die Taliban, die nach ihrer Machtergreifung 1996 Afghanistan beherrschten. Die Nasen der Bewohner von Bamiyan sind für die islamistischen Fundamentalisten besonders bedeutsam, sehen sie doch den Nasen der gigantischen Buddha-Statuen verdächtig ähnlich, die vor 1 500 Jahren in die Berge von Bamiyan gehauen wurden. Für die Taliban sind schon diese Nasen Beweis genug, dass der Übertritt der Hasara vom Buddhismus zum Islam im 9. Jahrhundert nur geheuchelt war und sie in Wirklichkeit Ungläubige geblieben sind.
Mariam hat große, offene Augen, rote Pausbäckchen und eine Nase, von der ich nun aber doch nicht recht zu sagen weiß, ob sie den Buddha-Nasen gleicht oder nicht. Ist sie schon so flach, dass sie den Tod verdient, oder noch markant genug, um verschont zu werden? Das Hasara-Mädchen ist fünf, als der »Führer der Gläubigen«, Mullah Omar, Kabul einnimmt und Afghanistan in das schlimmste Land der Welt verwandelt, das man sich für Kinder denken kann. Puppen und jede andere Nachbildung des menschlichen Körpers, Fernsehen, Malerei und Musik werden verboten. Es ist untersagt, Drachen fliegen zu lassen, und Mädchen dürfen nicht lächeln, da man darin Koketterie erblickt. Kleine Mädchen wie Mariam haben gelernt, sich daran zu halten. Es ist schwer, ihren düsteren Mienen anzusehen, ob sie traurig oder fröhlich sind, ob sie innerlich weinen oder lachen.
Die Taliban schließen auch die Schulen. Alle Mädchen müssen |140| im Haus bei den Frauen bleiben. Einmal in der Woche verhüllt Mariam ihr Gesicht und lässt sich von ihrem Onkel zu einer geheimen Schule in der Küche einer Nachbarin in dem Ort Nayak im Distrikt Yakaolang begleiten. Nicht zufällig wird die Küche als Klassenraum gewählt: Falls die Sittenpolizei ins Haus kommt, lassen sich Stifte und Hefte schnell mit Schürzen und Kochtöpfen vertauschen, und die Frauen können behaupten, dass sie gemeinsam kochen wollen, die einzige Betätigung, die ihnen außer dem Gebären und Putzen erlaubt ist. Mariam gefällt die Schule, auch wenn es ihr nicht leicht fällt, sich zu konzentrieren, solange sie Angst haben muss, dass die Polizei kommt und sie bestraft. Ihr Vater ist dagegen, er sagt, für ein Mädchen gebe es in Afghanistan sowieso keine Zukunft.
Das Hasara-Mädchen aus Bamiyan leidet unter der Gegenwart, doch mehr noch fürchtet es die Zukunft. Was auf sie zukommt, tritt Mariam nur allzu deutlich vor Augen, wenn sie sieht, wie ihre Mutter auf offener Straße ausgepeitscht wird, wenn sie ohne einen Mann aus ihrer Familie an der Seite einkaufen geht, wie sie erniedrigt wird in einer Gesellschaft, die einem Hund mehr Wert zubilligt als einer Frau, weil die Frauen in den Augen der Taliban das schwache Glied der Menschheit sind, ein Übel, das die Männer schwächt und verdirbt.
Die Tugendwächter wurden in Koranschulen ausgebildet, in denen Kontakte zu Frauen, einschließlich Mütter und Schwestern, streng beschränkt waren. Hinter ihrer Repression steckt auch die Angst vor dem Unbekannten. Sie verbergen die Frauen unter den Burkas, um ihnen nicht gegenübertreten zu müssen, sie löschen sie als Personen aus, weil sie nicht wissen, wie sie sie behandeln oder was sie ihnen
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