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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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merkwürdigste Visitenkarte, die ich je erhalten habe. Ngodup erzählt mir, dass ihn wenige Stunden zuvor der Dalai-Lama besucht hat.
    »Hat er Sorgen?«, frage ich.
    »Na ja, er kommt, wenn ihn etwas bedrückt«, antwortet er, sichtlich stolz auf seine große Nähe zum Dalai-Lama. »Es ist nicht leicht, mit dem Orakel in Kontakt zu treten, ich muss in Trance fallen, und das ist ein traumatisches Erlebnis. Das ist nichts, was man alle Tage machen könnte.«
    »Verstehe. Und was ist es, was den Dalai-Lama besorgt?«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist ein Geheimnis. Vielleicht können Sie ihn bei Ihrem Interview danach fragen.«
    Das Haus des Dalai-Lama in Dharamsala bietet eine außergewöhnliche Aussicht auf das Kangra-Tal. Es ist eine schlichte Residenz ohne Extravaganz oder Luxus, kein Vergleich zu den unzähligen Räumen des Potala-Palastes. Als er sich hier einrichtete, ließ |186| der Dalai-Lama als Erstes alle Formalitäten beseitigen, die ihn in der Vergangenheit von den Menschen getrennt hatten. Besonders erfreut bin ich darüber, dass er auch der Manie ein Ende setzte, die Beine der Gästestühle abzusägen, damit sie ihn nicht überragten, was unsere Begegnung für mich wesentlich unbequemer gemacht hätte.
    Der Dalai-Lama lässt mich hereinrufen und empfängt mich im Vorraum, nimmt mich bei der Hand und führt mich durch den Garten in den Audienzsaal. Auf dem Weg erkundigt er sich nach meiner Familie, Spanien und der Arbeit – jaja, diese Journalisten, immer auf dem Weg von einem Ort zum anderen, immer unterwegs. Wenn es so etwas wie »konzentrierte Menschlichkeit« gibt, bündelt er so viel davon in seinem gebeugten Körper, dass seine Gegenwart den Raum völlig auszufüllen scheint. Vom ersten Augenblick an gibt er einem das Gefühl, als wäre man das Wichtigste für ihn, als gäbe es nichts Besseres, als zuzuhören, als hätte er alle Zeit der Welt. Ich bemerke keine Spur von Herablassung, wie bei manchen Politikern, die ich interviewt habe, bei denen alles, was sie tun, jede Geste, jede Erklärung, das Ziel verfolgt, die eigene Bedeutung hervorzukehren, sodass man fast bildlich vor Augen sieht, wie sie sich ballonartig vor einem aufblähen, und man Angst bekommt, sie könnten jeden Moment platzen.
    Der Dalai-Lama ist ein glücklicher Mensch, genauer gesagt, ein glücklicher Flüchtling, denn während jeder Tourist heute ein Flugzeug nehmen und Lhasa besuchen kann, ist ihm die Rückkehr in sein Haus verboten. Er wirkt so einfach, dass ich ihn mir in einer Bar in Madrid vorstellen kann, wie er mit den Freunden ein Bier trinkt und über Fußball und Frauen diskutiert.
    »In meinen Träumen fühle ich mich fast nie wie der Dalai-Lama«, verrät er mir mit einem schelmischen Lächeln, »sondern nur als ein buddhistischer Mönch unter vielen. Wenn manchmal Frauen in diesen Träumen auftauchen, wird mir sofort bewusst, dass ich ein Mönch bin und vorsichtig sein muss.«
    »Treten Frauen auch in Ihrem wirklichen Leben an Sie heran?«
    |187| »Aber ja doch!«, ruft er lachend aus. »Auch in der Realität, natürlich. Also, im wirklichen Leben sogar noch häufiger. Ich glaube, ich habe mindestens zehn Heiratsanträge bekommen. Einige der Damen hatten sogar Tränen in den Augen.«
    »Viele Männer würden Sie beneiden.«
    »Ich habe jeder von ihnen gesagt, dass ihr Ansinnen ein Fehler ist aus der Sicht des Buddhismus sogar eine Sünde. Frauen sage ich, dass sie mich als einen Bruder betrachten sollen.«
    Der Dalai-Lama gesteht, dass er ein sozialistisches Herz hat und es eine Zeit gab, in der er Mao bewunderte, weil er dachte, seine Ideen der Gleichheit ähnelten jenen des Buddhismus. Schließlich musste er jedoch entdecken, dass dem Mann – und dem Kommunismus – die fundamentale Essenz seines eigenen Glaubens fehlten: das Mitgefühl. Der Dalai-Lama beklagt, dass man im Gegensatz zu anderen Ländern, wo der Westen Krieg führt, um gegen die Tyrannei zu kämpfen, in Tibet noch kein Öl gefunden hat, was ihn um die Zukunft seines Landes bangen lässt. Er hegt keinen Zweifel, irgendwann in sein Land zurückzukehren, wenn nicht in diesem Leben, so im nächsten. Wenn eines Tages das Sterben an ihn kommt und er sich zum 15. Mal in das ewige Licht der Tibeter reinkarniert, ginge er, sagt er, gerne in dem Wissen fort, dass sein Volk gerettet ist, so wie ein Vater in der Gewissheit scheiden möchte, dass seine Kinder allein zurechtkommen.
    »In Tibet haben wir eine Übung, die darin besteht, sich den eigenen

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