Kinder des Monsuns
Tod vorzustellen«, erklärt er. »Oft frage ich mich, ob ich, wenn der Augenblick kommt, mit Mut scheiden werde.«
Der Dalai-Lama verliert kein einziges schlechtes Wort über China, seine Führer oder jene, die ihn von seinem Volk getrennt und es unterworfen haben. Sein Blick verrät weder Ressentiment noch Zorn, wenn er das Leid seines Volks beschreibt, auch keine Rachegefühle – nur Mitgefühl. Ich habe offenbar zu viele Politiker interviewt, denn am Anfang meines Gesprächs mit ihm hege ich den Verdacht, dass es nicht stimmen kann, dass alles nur Teil einer Pose sein muss, einer Rolle, die er mit der Natürlichkeit langer |188| Übung spielt. Doch nach einigen Minuten verfliegen meine Zweifel. Er überzeugt mich und entwaffnet meinen Zynismus.
Das Leben hat ihn gelehrt, dass es immer zu viele Feinde gibt, um sie alle zu besiegen, und es besser ist, über den Hass zu triumphieren, der uns diese Feinde schafft. Nur so könne man den Sieg davontragen. Und mit dieser an die utopische Moral einer Kindergeschichte erinnernden Idee, die in einer häufig brutalen Welt so lebensfern klingt, will der Dalai-Lama ein Volk vorwärts führen, das am Rande des Abgrunds lebt. Er bittet die Tibeter um Mitleid mit dem chinesischen Soldaten, der mitten in der Nacht ihre Kinder abholt, um Mitgefühl gegenüber dem Funktionär, der die Zerstörung ihres Hauses befiehlt, um Mitleid für jene, die ihre Tempel einreißen und ihren Glauben erniedrigen. Yeshe wäre nicht enttäuscht gewesen, wenn er jetzt hier wäre.
»Ich habe im Potala-Palast einen außergewöhnlichen Mönch kennen gelernt«, erzähle ich dem Dalai-Lama am Ende unserer Begegnung. »Er war in Tibet ein paar Tage mein Fremdenführer. Die Soldaten kamen regelmäßig in seine Zelle im Potala-Palast und verlangten, dass er die Fotos mit Ihrem Bild von der Wand nimmt, doch er weigerte sich jedes Mal. Sein Traum war es, nach Dharamsala zu kommen und Sie kennen zu lernen.«
Als er die Geschichte von Yeshe hört, trübt sich seine Miene. »Sie verraten seinen Namen doch nicht in der Zeitung, oder?«, fragt er besorgt. »Sein Leben wäre in Gefahr.«
»Ja, ich weiß.«
»Gut«, sagt er, wieder lächelnd. »Man muss Vorsicht walten lassen.«
Mit der Erwähnung von Yeshes Geschichte verband sich eine geringe Hoffnung, dass der Dalai-Lama Nachricht von ihm hatte. Es gab nunmehr nur noch wenige Mönche im Potala-Palast, und ohne Zweifel hätte man ihn verständigt, wenn sich einer von ihnen auf den Weg nach Dharamsala gemacht hätte, um ihn kennen zu lernen. Doch der Dalai-Lama schien sich nicht an ihn zu erinnern.
Martin Regg, mein Kollege vom
Toronto Star
, war einige Monate |189| zuvor in Tibet gewesen und hatte im Potala-Palast nach ihm gefragt. Von anderen Mönchen erfuhr er, dass er fortgegangen sei. War er in Lhasa geblieben, um als Fremdenführer zu arbeiten? Hatte sein Traum in einem chinesischen Kerker ein Ende gefunden? Oder hatte er ihn verwirklicht und es nach Dharamsala geschafft? Für ihn hatte es nur die eine Reise gegeben, die er Jahre zuvor als Knabe begonnen hatte, als er sein Dorf in Qamdo auf der Suche nach dem Dalai-Lama verließ. Ich stelle mir vor, wie er bei einer der täglichen Audienzen, die seine Heiligkeit den Flüchtlingen gewährt, vor seine Residenz tritt und darauf wartet, an die Reihe zu kommen. Beide hatten sie als Knaben im Potala-Palast gelebt und beide hatten sie aus Tibet fliehen müssen, um sich selbst und alles, woran sie glaubten, zu retten. Yeshe würde Tenzin Gyatso erzählen, welcher großen Gefahr er ausgesetzt gewesen war.
»Was für eine Gefahr war das?«, würde der Dalai-Lama fragen.
»Die Gefahr, das Mitgefühl für die Chinesen zu verlieren.«
*
Shangri-La ist in James Hiltons Weltbestseller
Der verlorene Horizont
(auch
Irgendwo in
Tibet
) von 1933 ein mythisches, harmonisches Tal im Himalaja. (A. d. Ü.)
191
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|191| Kapitel 7
Ewige Schönheit – Nomaden der Schächte
|193| M it einem Satz erreicht Ewige Schönheit die Trittleiter, klettert sie, immer zwei Sprossen auf einmal nehmend, hinauf, und schon kommen seine Wollmütze, seine schiefen Ponyfransen und seine gewitzten Knopfaugen aus dem Einstiegsschacht zum Vorschein. Auf der Straße ist niemand zu sehen, niemand beobachtet von den Fenstern der alten, grauen Wohnblocks im Sowjetstil aus das Geschehen, niemand lugt aus den kleinen Lichtkegeln der Straßenlaternen auf dem Bürgersteig zu ihm hinüber.
Er streckt seine kleinen Arme
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