Kinder Des Nebels
Sonnenlicht versengte Stadt. Sie war hart, unverkennbar und bedrückend.
Bei Nacht aber kamen die Nebel, in denen alles verschwamm und undeutlich wurde. Die Festungen des Hochadels wurden zu geisterhaften, hoch aufragenden Schemen. Die Gassen schienen im Nebel enger zu werden, und auf den großen Straßen wurde es einsam und gefährlich. Sogar Adlige und Diebe gingen bei Nacht nicht gern nach draußen; es erforderte ein tapferes Herz, der unheilverkündenden, nebligen Stille zu trotzen. Nachts war die dunkle Stadt ein Ort der Verzweifelten und Verwegenen; sie war ein Land wirbelnder Mysterien und rätselhafter Kreaturen.
Kreaturen wie ich,
dachte Kelsier. Er stand auf dem Sims, der das Flachdach des Diebesverstecks einrahmte. Verschattete Gebäude ragten um ihn herum in die Nacht, und im Nebel und der Dunkelheit schien sich alles zu regen und zu bewegen. Hier und da drangen aus den Fenstern flackernde Lichter, doch die schwachen Leuchtketten wirkten verängstigt und zusammengekauert.
Eine kühle Brise wehte über das Dach, störte den Dunst auf und strich über Kelsiers nebelfeuchte Wangen wie ausgehauchter Atem. In der Vergangenheit - in jener Zeit, bevor alles außer Kontrolle geraten war - hatte er abends vor einem Auftrag immer ein Dach aufgesucht und einen Blick über die Stadt geworfen. Erst als er neben sich schaute und erwartete, dort Mare stehen zu sehen, bemerkte er, dass er seine alte Gewohnheit wieder aufgenommen hatte.
Doch er blickte nur in die Leere. Es war einsam hier oben. Und still. Die Nebel hatten sie ersetzt. Schlecht ersetzt.
Er seufzte und drehte sich um. Vin und Docksohn standen hinter ihm auf dem Dach. Offenbar gefiel es den beiden nicht, im Nebel zu sein, doch sie konnten mit ihrer Angst umgehen. Man kam in der Unterwelt nicht weit, wenn man nicht lernte, dem Nebel zu trotzen.
Kelsier hatte gelernt, ihm nicht nur zu trotzen. So oft war er in den letzten Jahren im Nebel gewandert, dass er sich inzwischen beinahe wohlfühlte in der Nacht, wenn der Nebel ihn umarmte - wohler als am Tage.
»Kell«, sagte Docksohn, »musst du unbedingt so nah am Abgrund stehen? Unsere Pläne mögen ein wenig verrückt sein, aber sie sollten nicht schon damit enden, dass du da unten über das Pflaster verteilt liegst.«
Kelsier lächelte.
Er hält mich noch immer nicht für einen Nebelgeborenen,
dachte er.
Es wird einige Zeit dauern, bis sie alle sich an diesen Gedanken gewöhnt haben.
Vor vielen Jahren war er zum berüchtigtsten Bandenführer von ganz Luthadel geworden, und zwar ohne den Einsatz von Allomantie. Mare war ein Zinnauge gewesen, aber er und Docksohn ... sie waren bloß gewöhnliche Männer gewesen: der eine ein Halbblut ohne jede Macht, der andere ein entlaufener Plantagen-Skaa. Gemeinsam hatten sie Große Häuser in die Knie gezwungen und frech die mächtigsten Männer des Letzten Reiches bestohlen.
Und nun war Kelsier mehr - so viel mehr. Früher hatte er von der Allomantie geträumt und sich eine Macht wie die von Mare gewünscht. Sie war gestorben, bevor er seine Kräfte erworben hatte. Sie hatte nicht mehr sehen können, was er aus ihnen machte.
Früher hatte ihn der Hochadel gefürchtet. Der Oberste Herrscher persönlich hatte Kelsier in die Falle locken müssen. Aber jetzt ... jetzt würde das Letzte Reich selbst erbeben, bevor Kelsier mit ihm fertig war.
Er warf noch einen Blick über die Stadt, atmete die Nebelschwaden ein, sprang dann vom Sims und schlenderte hinüber zu Docksohn und Vin. Sie hatten keine Laternen dabei; das vom Nebel zerstreute Sternenlicht reichte in den meisten Fällen aus.
Kelsier entledigte sich der Jacke und der Weste und übergab sie Docksohn, dann zog er das Hemd aus der Hose, damit es locker an ihm herabhing. Der Stoff war so dunkel, dass er in der Nacht beinahe unsichtbar war.
»In Ordnung«, sagte Kelsier. »Bei wem soll ich es versuchen?«
Docksohn runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass du das wirklich tun willst?«
Kelsier lächelte.
Docksohn seufzte. »Die Häuser Urbain und Teniert sind vor kurzem schon heimgesucht worden, allerdings nicht wegen ihres Atiums.«
»Welches Haus ist im Augenblick das mächtigste?«, fragte Kelsier. Er hockte sich nieder und löste die Riemen an seinem Gepäck, das vor Docksohns Füßen lag. »Von welchem würde niemand glauben, dass es ausgeraubt werden könnte?«
Docksohn dachte nach. »Das Haus Wager«, sagte er schließlich. »Schon seit einigen Jahren steht es ganz an der Spitze. Es hat ein stehendes
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