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Kinder

Kinder

Titel: Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seibold
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Rotwein an den
Esstisch. Nach dem Stammtisch waren sie noch eine Runde durchs Viertel
gegangen, weil ihnen die Geschichte von Hanna Probst keine Ruhe gelassen hatte.
Und als sie nach Hause kamen, lagen alle drei Kinder schon im Bett und kein
Mucks war mehr zu hören. Der Bildschirm des Fernsehers im Wohnzimmer war noch
warm, aber als die Eltern leise in die Kinderzimmer schauten, überboten sich Lukas,
Michael und Sarah darin, einen möglichst tief schlafenden Eindruck zu erwecken.
    Rainer Pietsch nickte nur, gab seiner Frau ein Glas und prostete ihr
zu.
    »Verrückte Geschichte, die wir da gehört haben, oder?«
    Hendrik Probst ging mit Sarah in eine Klasse, und morgen würden
Annette und Rainer Pietsch ihre Tochter fragen müssen, warum sie ihnen nichts
von dem Zwischenfall erzählt hatte – es war schließlich kein Pappenstiel, was
sich da in der 9c ereignet hatte. Was Hendrik seiner Mutter und sie den Eltern
am Stammtisch geschildert hatte, lief darauf hinaus, dass Franz Moeller, der in
der 9c Mathematik unterrichtete, unter seinen Schülern ein Klima der Rivalität
schürte, dass er Druck und Angst aufbaute – nichts, was Annette und Rainer
Pietsch von der Schule ihrer Kinder hören wollten.
    Franz Moeller hatte am Tag nach dem Elternabend während einer
Mathestunde das Klassenzimmer verlassen, um im Lehrerzimmer etwas zu holen, das
er anscheinend vergessen hatte. Er hinterließ den Kindern Aufgaben, war aber
noch nicht zurück, als die Aufgaben bereits erledigt waren. Eine Zeit lang
blieben die Schüler trotzdem still, weil sie Moeller inzwischen als strengen
Lehrer kennengelernt hatten – doch schließlich begannen die Ersten zu reden,
und wenig später waren überall im Klassenzimmer Gespräche im Gange, wenn auch
nicht besonders laut, wie Hendrik beteuert hatte.
    Plötzlich stand Moeller wieder im Klassenzimmer, und noch bevor ihn
alle bemerkt hatten, zitierte er Sören Karrer nach vorne zur Tafel. Der
schlaksige Junge galt mit seinem lässigen Auftreten, seinen gut schulterlangen
schwarzen Haaren und seinem Talent für kesse Sprüche als Star der 9c, mit dem jeder
gern zusammen war. Und weil er obendrein ein ausreichend guter Schüler war,
hatte ihn jeder Lehrer in seiner Rolle belassen.
    Damit hatte es an diesem Tag ein Ende.
    »Herr Karrer«, hatte Franz Moeller mit einem herablassenden Grinsen
gesagt, »nun versuchen Sie sich mal halbwegs gerade hinzustellen.« Kurze Pause.
»Noch etwas gerader, bitte!« Kurze Pause. »Und nun nehmen Sie die Kreide und
stellen sich an die Tafel.« Kurze Pause. »Danke, nun legen Sie die Kreide bitte
weg und schauen Ihre Mitschüler an.«
    Daraufhin hatte Sören fragend zu Moeller hingesehen. Anscheinend
verstand er nicht, was der Lehrer mit ihm vorhatte.
    »Ihre Mitschüler, bitte, Herr Karrer, nicht mich!«
    Sören hatte ihm den Gefallen getan und mit einem lässigen Grinsen in
die Runde gesehen.
    »Schauen Sie sich diesen jungen Mann genau an«, hatte Moeller nun
doziert, nachdem er sehr zufrieden Sörens Grinsen registriert hatte, »und
lernen Sie aus seinem Verhalten. Sie alle finden ihn … wie sagt man? Cool?
Geil? Was auch immer. Viele von Ihnen, vermute ich, wären gerne wie Sören – und
dann steht Ihr großes Idol auf, dreht sich zu Ihnen hin, stellt sich gerader
hin, dann noch etwas gerader, dann nimmt er die Kreide und stellt sich an die
Tafel, dann legt er die Kreide weg und dreht sich wieder um, macht alles, was
ich ihm sage, ohne auch nur einmal wirklich aufzubegehren. Mehr als ein etwas
dümmliches Grinsen bringt er als Reaktion darauf nicht zustande – Sie haben es
gerade selbst gesehen.«
    Sören hatte seinen Kopf Moeller zugewandt.
    »Bitte, Herr Karrer: den Kopf geradeaus!«, donnerte Moeller,
plötzlich ein gutes Stück lauter als bisher.
    Sofort hatte Sören wieder zu seinen Mitschülern hingesehen, der
Schreck war ihm sichtlich in die Glieder gefahren.
    »Sehen Sie? Er hat es wieder getan: Er versteht nicht, was ich von
ihm will, aber er gehorcht meinen Befehlen. Wollen Sie auch solche … Äffchen
werden?«
    Sören war ein wenig in sich zusammengesunken.
    »Wir sind hier an einem Gymnasium, und Sie als Gymnasiasten haben
die Chance, nein: die Aufgabe, zur Elite Ihres Landes zu werden. Sie werden in
einigen Jahren als Ärzte, Anwälte oder Manager arbeiten. Die Besten unter Ihnen
werden ein paar Jahre später als Chefärzte, Prokuristen oder Geschäftsführer
mittlere und größere Unternehmen in den unterschiedlichsten Branchen

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