Kindermund (German Edition)
quasselt weiter, als hätte ihn jemand aufgezogen.
Mama füllt einen Teller mit Fleisch und Nudeln, stellt ihn vor mir auf den Tisch. Dabei teilt sie mir knapp mit, dass sie heute Abend mit Heinrich ausgehen wird. Ich fange sofort an zu weinen, schreie, stampfe, flehe sie an, bei mir zu bleiben. Es nützt nichts. Die Haustür fällt ins Schloss. Ich bin allein. Heinrich heißt dieser Kerl! Was für ein hässlicher Name! Seinetwegen lässt Mama mich zurück! Ich hasse ihn!
Obwohl ich furchtbar traurig bin, hecke ich einen teuflischen Plan aus: Ich stecke ein Stück Fleisch in den Mund, kaue so lange darauf herum, bis es zu einer eklig breiigen Masse wird, und stopfe es durch eine Öffnung auf der Rückseite des Radios. Erst als der Teller leer ist, höre ich auf. Mal sehen, was daraus wird!
Auf keinen Fall werde ich ins Bett gehen. Ich werde hier sitzen bleiben und warten, bis Mama nach Hause kommt. Ich singe mir selbst Lieder vor, erzähle laut eine Geschichte. Immer wieder laufe ich zur Wohnungstür, starre auf das Schloss, will den Schlüssel zwingen, sich darin zu drehen. Jedes Mal kehre ich enttäuscht auf meinen Stuhl zurück. Mein Po tut weh. Ich baumle mit den Beinen und zähle die Schläge der Fußsohlen gegen die Stuhlbeine. Weil ich so müde bin, verzähle ich mich. Dieser Kerl darf nicht gewinnen!
Ich werde wach vom Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss stochert. Sofort stürme ich zur Tür. Leider torkelt mir nur mein Großvater entgegen: »Mein lieber Schwan! Du bist noch nicht im Bett?« Er fuchtelt gefährlich mit seinen langen Armen. Ich fliehe über den roten Teppich und mit dem Gefühl im Nacken, dass Großvater in großen Schritten hinter mir her jagt. Im Schlafzimmer lasse ich mich auf den Boden fallen, rutsche unter mein Bett und drücke mich an die Wand, damit er mich nicht packen kann. So lang sind seine Arme nun auch wieder nicht! Aber er kommt nicht. Stattdessen lautes Fluchen, dann kracht die Tür ins Schloss. Ich horche ihm nach. Stille. Er ist wieder gegangen.
Vorsichtig krieche ich aus meinem Versteck. Die Zimmertür ist nur angelehnt. Ich schiebe einen Fuß dazwischen, spähe um die Ecke in den dunklen Flur. Alkoholgeruch breitet sich aus. Ich schüttle mich vor Ekel und Kälte und bin furchtbar müde. Aber ich werde auf keinen Fall noch einmal einschlafen. Dieser Heinrich darf nicht gewinnen!
Da fällt mir ein, dass Mama wieder Kirschen gekauft hat. Mit der Tüte im Arm setze ich mich ans Ende des Flurs und stelle sie mir zwischen die Beine. Meine Hand tauche ich tief in den Berg von Früchten. Sie fühlen sich prall und weich zugleich an. Ich ziehe eine davon heraus und lasse sie von oben in meinen Mund fallen. Sie schmeckt süß. Mittlerweile weiß ich, dass man den Kern nicht mitisst, und spucke ihn in Richtung Wohnungstür. Er fällt vor mir auf den Teppich.Das war leider überhaupt nicht weit. Ich lutsche die nächste Kirsche, zerbeiße sie, rolle den Kern mit der Zunge zwischen meine Lippen, spucke. Auch nicht besser. Bei der nächsten Kirsche springe ich auf, hole tief Luft, blähe die Backen, pruste. Der Kern segelt kraftlos zu Boden. Resigniert rutsche ich an der Wand entlang in die Hocke und stecke den Kopf tief in die Tüte. Fette, dunkelrote Bälle!
Ich nehme einen davon zwischen Daumen und Zeigefinger, drücke, bis er aufspringt. Ein Tropfen rollt auf meinen Fingernagel, ich presse fester. Rote Flüssigkeit quillt aus dem Riss, ich verfolge ihren Weg, wie sie auf mein Knie tropft und eine Pfütze bildet. Ganz langsam ziehe ich das Knie zum Mund, sauge mich an der Haut fest. Die Kirsche in meiner Hand ist nicht mehr schön. Ich werfe sie an die Wand. Kurz bleibt sie hängen, dann fällt sie zu Boden. Der Fleck an der Tapete sieht aus wie Blut. Das wird Mama nicht freuen! Aber sie ist selbst schuld, warum lässt sie mich auch so lange allein wegen dieses Heinrich. Was will sie überhaupt von dem?
Ich fingere die dickste Kirsche aus dem Haufen, zerquetsche sie in meiner Faust. Dünne Rinnsale laufen zwischen meinen Fingern über die Hand, tropfen auf meine Schenkel, verfangen sich in den flaumigen Härchen, verästeln sich, bilden neue Wege, versickern in der Haut.
Ich zerstöre eine Kirsche nach der anderen, schmiere mir den Saft ins Gesicht, verreibe ihn auf Armen und Beinen, schleudere die Früchte in die Luft oder gegen die Wand. Der Teppich ist übersät mit Kirschresten, die wie kleine rohe Fleischbrocken aussehen. An der Tapete klebt getrockneter Saft.
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