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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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Schreibwarenregal. Die Schachtel wiegt schwer in meiner Unterhose. Meine Augen wandern nach rechts zur Wursttheke. Eine dicke Frau plappert mit der Verkäuferin. Links laufen ein paar Kunden mit Einkaufswagen, studieren Zettel und mustern die Lebensmittel in den Regalen. Die Leute sind beschäftigt. Dann los jetzt! Ich kannnicht. Hände und Arme hängen schlaff an mir herunter, als würden sie nicht zu mir gehören. Sie gehorchen mir nicht. Ich nehme neuen Anlauf: rechts, links, rechts, links – jetzt! Der Mut verlässt mich. Was, wenn ich es nicht schaffe? Dann wird Mama mich suchen, sie wird hierherkommen, mit dem Finger auf mich zeigen und mich vor allen Leuten anklagen, dass ich die Stifteschachtel gestohlen habe. Dann wird die Polizei kommen, mir Handschellen anlegen, mich abführen und ins Gefängnis werfen. Und Mama wird schweigend dabeistehen oder grinsend den Kopf schütteln und sagen: »Das tut dir mal ganz gut, eine Zeit im Gefängnis!« Einmal am Tag wird mir jemand Wasser und Brot bringen, sonst bin ich allein in einer dunklen Zelle mit Ratten und Spinnen! Meine Angst steigert sich, bis ich es nicht mehr aushalte. Ich schiebe die Hand unters Kleid, sie umklammert das Kästchen, schießt hervor und wirft es ins Regal. Ich höre auf zu atmen, horche nach einer Stimme, die über mir losdonnert, und wage es nicht, mich umzusehen, mich zu rühren. Aber nichts passiert, der Betrieb schnarrt gleichmäßig weiter, Kassen rattern. Die Geräusche hören sich unverändert an. Geschafft! Niemand hat es gesehen. Das Hämmern meines Herzens schallt wie aus Lautsprechern aus allen Ecken. Alle müssen es hören. Doch keiner schaut mich an, niemand beachtet mich. Leicht wie eine Feder hüpfe ich nach Hause.
    Ich räume Puppenkinder und Decken vom Balkon und verkrieche mich vor Mama und Heinrich. Abends kann ich keinen Bissen essen, meine Kehle ist zugeschnürt. Ich schiebe das Wurstbrot auf dem Teller hin und her. Die Spannung steigert sich bis zu dem Moment, als Heinrich endlich die Küche verlässt. Er muss noch Schularbeiten korrigieren. Sie hat mich nicht verpetzt!
    Allerdings kommt ein schwarzer Punkt für den Nikolaus dazu. Mama steht vom Tisch auf, streift mich kurz und zeichnet mit einem Bleistift einen kirschgroßen Kreis auf das Blatt, das an die Wand hinter der Küchentür geheftet ist.Dann malt sie ihn ganz aus. Ich spüre, mit welcher Hingabe sie den Punkt immer fetter macht. Er glänzt wie Speck. Ich soll ruhig Angst haben vor dem Nikolaus. Am Ende des Jahres wird er kommen und meine Schandtaten ans Licht zerren. Jedes Jahr versammeln sich die Verwandten in der Wohnung meiner Tante Rotraud zu einem Fest. Für uns Kinder ist es das Jüngste Gericht. Da wird man für schuldig oder unschuldig befunden, und das Urteil wird gesprochen. Schon Wochen vorher schleichen mein Cousin Gaston und ich mit Bauchschmerzen durch die Welt.
    Ein Foto hat eine solche Zeremonie festgehalten: Ich bin sechs Jahre alt, Gaston drei. Der Nikolaus in roter Robe beugt sich, mit dem Finger drohend, über uns bibbernde Kinder. Ich stehe aufrecht wie ein Zinnsoldat mit zum Himmel gefalteten Händen und wage einen demütigen Blick nach oben. Gastons schreiender Mund nimmt sein ganzes Gesicht ein. Als ich lange Zeit später einmal das Bild betrachte, erkenne ich zwischen der üppigen Bartwatte das Apfelgesicht meiner Tante Rotraud. Gaston hat vor seiner eigenen Mutter um sein Leben gebrüllt.

D er Bauch meiner Mutter ist jetzt so unermesslich groß, dass ich mir wirklich Sorgen mache. Ein Luftballon platzt schließlich auch, wenn man ihn überdehnt. Ich stelle mir vor, dass es »puff« macht, ein kleiner Mann herausspaziert, von ihren Schenkeln springt, »tschüss« sagt und verschwindet. Mama schaut ungläubig an ihrem Körper herunter und fragt sich, wo der Bauch geblieben ist. Ihr Mann kommt ins Zimmer, sieht, was passiert ist, schwingt sich aufs Fahrrad und verschwindet für immer. Jetzt sind sie alle wieder weg, und Mama und ich leben zusammen wie früher. Wir schlafen in einem Zimmer, Kopf an Kopf, die Hände fest ineinander verkrallt. Meine Mama für mich allein zu haben ist mein einziger Wunsch auf dieser Welt.
    Mamas Bauch wächst sogar noch weiter. Eines Abends bekommt sie plötzlich Schmerzen, und kurz darauf nimmt ein Taxi sie mit sich fort. Ich stehe am Fenster und bete, dass der liebe Gott sie mir bitte nicht wegnehmen darf. Sie soll bitte wiederkommen!
    Beim Frühstück verkündet Heinrich, dass ich ein Brüderchen

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