Kindermund (German Edition)
Mama und ich Kopf an Kopf lagen und uns an den Händen hielten. Ich schmecke noch die frische Brezel, die mir die Bäckersfrau zusteckte, wenn ich beim Streunen im Viertel die Nase in die Backstube steckte. Selbst an die ekligen Tauben und die vollgeschissene Terrasse denke ich gerne. Wie ich mit boshafter Lust zwischen sie springe, wie sie auseinanderspritzen und jämmerlich mit den Flügeln schlagen.
Jetzt liege ich mit Fieber im viel zu großen Eisenbett, presse meine Puppe fest an mich und soll den Fotografen anlächeln. Heinrich will den ersten Tag in der neuen Wohnung im Bild festhalten. Durchs Fenster sehe ich Wolken ziehen.
Die neue Schule ist ein großer düsterer Kasten. Gelb gestrichene Wände, brauner Linoleumboden. Es riecht nach Bohnerwachs und dem Schweiß unzähliger Kinder. Die Lehrerin hat kurze Haare, ein unfreundliches Gesicht und ist sehr streng.
Ich wache immer sehr früh auf. Draußen ist es noch dunkel. Mich quälen die Angst vor der Lehrerin und das Gefühl, dass ich nichts kann. Ich bin verzweifelt. Oft klopfe ich heulend an die Schlafzimmertür: »Ich kann die Welle vom T nicht!« Keine Antwort. Ich drücke die Klinke hinunter. Die Tür ist abgeschlossen! In Panik laufe ich durchs Wohnzimmer auf den Balkon und flehe von außen an der Glastür zum Schlafzimmer um Mamas Mitgefühl. Man bleibt konsequent.
Heinrich ist Sprachlehrer in einem Mädchengymnasium. Er hat kein Auto, denn er ist Radfahrer aus Überzeugung. Die Schule liegt zwanzig Kilometer entfernt am anderen Ende von München. Er muss sehr früh losfahren, um kurz vor acht Uhr in den Schulhof zu rollen und elegant das Bein über den Sattel zu schwingen. Die Schülerinnen hängen angeblich aus den Fenstern, pfeifen und johlen. Er ist ein sehr beliebter Lehrer, sagt man. Sagt er.
Ich bin froh, dass er lange vor mir aus dem Haus muss. Dann habe ich meine Mama noch ein paar Minuten für mich allein. Allerdings geht es meistens nur um organisatorische Dinge zwischen uns: »Hast du das Pausenbrot eingepackt?« – »Hast du alle Hausaufgaben gemacht?« – »Geh, du kommst zu spät!« – »Nimm den Müll mit runter!«
Auf dem Weg zur Schule muss ich eine Schafwiese überqueren. Jeden Morgen winke ich, während ich rückwärts laufe, Mama so lange, bis der Balkon mit ihrer Gestalt darauf von Bäumen und anderen Häusern verdeckt wird.
Eines Tages, ich kann mich wieder nicht von ihrer immer kleiner werdenden Gestalt lösen, stolpere ich und falle in einen Brennnesselbusch. Meine nackten Beine glühen. Ein genialer Einfall treibt mich zurück nach Hause: Jetzt muss sie mich trösten! Endlich einen Tag mit Mama allein. Ich jage die Stufen hoch in den vierten Stock. Der ganze Schmerz bricht aus mir heraus, als ich vor ihr stehe und anklagend auf die Blasen auf meinen Beinen deute. Sie will meine Not nicht sehen und schickt mich wieder fort. Fassungslos schaue ich sie an, dann trabe ich dem abweisenden Gebäude entgegen, in dem ich zur Schule gehen muss.
E in Sommernachmittag auf dem Balkon. Ich habe den Boden mit Decken und Kissen ausgelegt. Meine Puppenkinder dösen leichtbekleidet im Schatten eines Sonnenschirms. Ich bewache ihren Schlaf. Die Wärme des Steins durchströmt meinen Körper, ich fühle mich wohl. In der Ferne schnarrt ein Rasenmäher, ein Flugzeug zeichnet gestochen scharfe Linien in den Himmel. Sie werden breiter, weich wie Watte, verlieren sich im Blau. In meiner Hand liegt ein schmales Metallkästchen. Ich streiche zart darüber, immer wieder, um die Spannung zu genießen. Dann öffne ich ganz langsam den Deckel. Als wären es Juwelen, nehme ich jeden Buntstift einzeln heraus und drehe ihn zwischen meinen Fingern. Wie köstlich sie nach Lack duften! Wie sie in der Sonne glänzen! Ich bin so sehr vertieft in den Anblick, dass ich zusammenzucke, als mich die scharfe Stimme meiner Mutter durchbohrt: »Wo hast du die her?«
Mein Körper glüht, ich schwitze und friere gleichzeitig. Ohne aufzusehen, stottere ich, dass ich sie gestohlen habe. Sie befiehlt mir, die Stifte auf der Stelle zurückzubringen. Ich starre sie ungläubig an. Dabei fällt mir auf, dass sich ihr Bauch über mir ziemlich deutlich nach vorne reckt. Ihre Miene sagt mir, dass ich keine andere Wahl habe.
Auf dem Weg zum Supermarkt fühle ich mich wie zur Hinrichtung getrieben. Mir ist, als machte ich einen Schritt vorwärts und zwei zurück. Ich komme kaum voran. Der Laden ist groß und ziemlich leer. Gebückt, weil ich mich schäme, schleiche ich zum
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