Kindermund (German Edition)
Das hat Mama nun davon! Sie wird sehr böse auf mich sein, aber das ist mir in diesem Moment egal.
Dieser Heinrich kommt jetzt regelmäßig. Meistens verschwinden er und Mama dann sofort im Schlafzimmer, Mama kichert und quietscht. Wahrscheinlich kitzelt er sie. Während ich darauf warte, dass sie endlich wieder herauskommen, laufe ich wie ein Tiger auf dem roten Teppich auf und ab. Dann geht die Tür auf, und Mama rauscht Arm in Arm mit ihrem Heinrich, immer noch kichernd, an mir vorbei. Die beiden bemerken mich kaum.
Plötzlich geht alles sehr schnell. Eines Tages sagt Mama, dass sie Heinrich heiraten wird und wir mit ihm zusammen in eine neue Wohnung ziehen werden. Zwar höre ich, was sie sagt, kann mir aber nicht vorstellen, was das zu bedeuten hat.
O rgelbrausen erfüllt den Kirchenraum, Engelsstimmen locken. Ihr heller Klang ist mir unheimlich. Das Brautpaar kniet vor dem Altar. Mamas Locken fallen auf den Kragen ihres weißen Kostüms. Sie hat sich Blümchen in die Haare geflochten, und ihre Wangen sind rosig. Neben ihr strahlt Heinrich im Anzug.
Ich sitze eingeklemmt zwischen lauter Erwachsenen in der ersten Reihe und schäme mich. Vor den wenigen, die ich kenne, und vor den vielen, die ich noch nie gesehen habe. Wegen meines ausgebleichten Röckchens, das schon hundertmal gewaschen wurde. Die Knie bedecke ich mit meinen Händen, damit man die Stopfstellen in der Strumpfhose nicht sieht. Und die Schnürstiefel von Babbo sind an den Spitzen grau, obwohl Mama immer weiße Schuhcreme darüberschmiert. Verstohlen prüfe ich die Schuhe rechts und links von mir. Sie glänzen im Kerzenschein. Die Hochzeitsgäste haben sich herausgeputzt, als gäbe es einen Preis zu gewinnen. Auf dem Kopf einiger Damen prangt sogar ein mit Federn oder Stoffblumen geschmückter Hut.
Die Orgel verstummt. Ihr letzter Ton hallt lange nach. Die Stimme des Pfarrers klingt, als würde ihm jemand die Nase zudrücken. Er erzählt von Gottvater, von Jesus, vom Heiligen Geist. Von Treue, »bis dass der Tod euch scheidet!« Ich betrachte die feierlichen Gesichter um mich herum. Ab und zu verschwindet ein Taschentuch unter einem Hut.
Mein Blick ruht lange auf Mamas Gesicht. Dann wühle ich Bleistift und ein gerolltes Blatt aus meinem Täschchen. Zwei Dinge, die ich immer dabeihabe gegen die Langeweile. Ich glätte das Papier auf meinem Knie, das mir als Unterlage dient, und beginne Mama zu zeichnen. Meine ganze Liebe packe ich in dieses Gesicht, das aussehen soll wie das eines Engels. Jetzt kommt Heinrich dran. Er bekommt eine Hakennase und ein Hexenkinn mit dicken Warzen, aus denen unzählige Stacheln wachsen. Ich zeichne ihn so hässlich, wie es nur geht. Jeder soll sehen, dass ich ihn nicht ausstehen kann. Zufrieden mit meinem Werk, packe ich Papier und Stift wieder ein.
Endlich ist die Trauung zu Ende. Das Brautpaar schreitet dem Ausgang entgegen, durch ein Spalier von klatschenden Gästen. Alle setzen ihr schönstes Lächeln auf. Mama hat keine Augen für mich. Schnell schlüpfe ich an den nach draußen drängenden Menschen vorbei, ich will Mama erreichen, will sie jetzt umarmen.
Vor der Kirche werfen Leute Reis und Blumen. Ich schiebe meine Hand in Mamas. Eine Traube von Menschen umringt das Brautpaar. Blitzlichter zucken. Ich verstecke mich sofort hinter Mama. Der Fotograf springt hin und her, kniet sich hin, geht in die Hocke und fordert das Brautpaar und die Gäste auf, zu lächeln. Wenn mich die Kamera überhaupt erwischt, dann sind meine Augen geschlossen. Ich will nicht gesehen werden, von niemandem. Mich hat nämlich keiner gefragt, ob ich das hier will. Ob ich will, dass meine Mama diesen Heinrich heiratet. Ob ich in eine neue Wohnung ziehen will, in eine fremde Schule gehen mit fremden Kindern und neuen Lehrern.
Wir drei ziehen in eine Drei-Zimmer-Küche-Bad-Neubauwohnung: sauber und kalt. Die Wände leuchten so weiß, dass es in den Augen weh tut. Ich habe alles verloren! Frimetta, meine liebste Freundin, unsere Zauberwelt, zu der nur wir beide Zutritt haben, meine Lehrerin, die mich so oft zum Lachen bringt. Kein Großvater mehr mit seinem von Gewitterwolken verdunkelten Gesicht, der hoch über mir mit dem Zeigefinger fuchtelt: »Mein lieber Schwan, gleich fällt der Watschenbaum um!« Sogar an sein Grölen denke ich wehmütig, mit dem er mich nachts aus den Träumen holte, und an den Augenblick der Angst, wenn die Handmit der Spritze bedrohlich näher kam. Am meisten sehne ich mich zurück nach unseren Betten, in denen
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