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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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bekommen habe. Gleich nach der Schule fahre ich mit der Straßenbahn ins Krankenhaus. Hoffentlich darf ich es sehen.
    Mama liegt erschöpft in den Kissen, beide Arme auf der Decke. Sie sieht sehr glücklich aus, nur ein bisschen blass. Ich halte es nicht aus in dem Zimmer, ich muss unbedingt das Brüderchen sehen! Eine Schwester nimmt mich an der Hand und führt mich über endlose fensterlose Flure bis zu einer Glasscheibe, vor die ein dicker Vorhang gezogen ist. Hier soll ich warten. Ich überbrücke meine Ungeduld, indem ich auf einem Bein den Flur rauf-und runterhüpfe oder ein Bein hochstrecke wie eine Ballerina, mich mit geschlossenenAugen auf einen Punkt konzentriere und so möglichst lange das Gleichgewicht halte. Als mir das zu langweilig wird, beginne ich zu zählen: die Knöpfe an den Kitteln der Ärzte, die ab und zu vorbeirauschen, ohne mich wahrzunehmen, die Beine der Essenswagen, die Türrahmen, die Fenstersprossen. Eins, drei, fünf, sieben … zwei, vier, sechs, acht … Langsam habe ich das Gefühl, dass sie mich vergessen haben. Da öffnet sich plötzlich der Vorhang, als würde der Himmel aufgerissen, und ich schaue in ein winziges rotes Gesicht. Das soll mein Brüderchen sein? Die Schwester wiegt das Bündel und lächelt mich verschmitzt an. Wahrscheinlich erheitert sie mein entsetzter Gesichtsausdruck. Jetzt muss ich auch lachen, und gleich darauf ein bisschen weinen. Verschämt drehe ich mich weg, laufe den Flur zurück, bemüht um eine aufrechte Haltung. Niemand soll sehen, dass ich Angst habe vor dem Bruder, davor, dass auch er mir meine Mama wegnimmt.
    Zwei Tage später muss ich nach dem Besuch im Krankenhaus auf dem Heimweg beim Bäcker noch Milch kaufen. Heinrich und ich leben in diesen Tagen allein in der Wohnung. Wir essen immer zusammen zu Abend, er bemüht sich, freundlich zu mir zu sein, fragt mich nach der Schule und ob er mir helfen kann. Heinrich kratzt sich viel am Kopf. Manchmal wünscht er sich, von mir gekämmt zu werden. Eigentlich will ich nicht, aber ich mache diese Arbeit sehr sorgfältig. Die herunterrieselnden Schuppen schiebt Heinrich auf der Tischplatte zu kleinen Häufchen. Ich ekle mich davor.
    Heute ist er nicht zu Hause, und ich kann den Abend so gestalten, wie ich es will. Ich stelle die Milchflaschen auf den Küchentisch und lege das Restgeld daneben. Dann richte ich mir einen Teller mit belegten Broten und nehme mir Obst und von allen Leckereien, die ich sonst nicht bekomme. Bevor ich mit dem Abendessen beginne, lege ich mich in die Badewanne. Das heiße Wasser hüllt mich ein. Schnellabtrocknen, Schlafanzug anziehen, ins Bett schlüpfen, mein Festmahl genießen und dabei die Geschichte von Eric, dem Jungen aus Norwegen, lesen.
    Dass Heinrich nach Hause kommt, höre ich nicht, auch nicht, dass er das Zimmer betritt. Plötzlich setzt sich etwas Schweres auf mein Bett. Ich schreie auf, so sehr erschrecke ich. Heinrich sieht mich lange an. Ein unbehagliches Gefühl macht sich in mir breit. »Was hat die Milch gekostet?«, fragt er. Ich spüre die Gefahr.
    »Eine Mark«, sage ich.
    »Du lügst! Neunzig Pfennig!« Ich spüre, wie ich rot werde. »Du hast zehn Pfennig unterschlagen und gelogen!« Er schlägt die Decke zurück und befiehlt mir, die Hose runterzuziehen. Dann sehe ich den Handfeger, mit dem er weit ausholt und mehrmals kräftig zuschlägt. Der Schmerz treibt mir die Tränen in die Augen, aber er bekommt nicht den kleinsten Laut zu hören. Lieber beiße ich mir die Zunge ab! Zufrieden verlässt er den Raum, im Bad höre ich ihn fröhlich pfeifen. Ich bleibe nackt und gedemütigt zurück und stelle mir vor, wie es wäre, tot zu sein. Mama und alle anderen stehen auf dem Friedhof um meinen Sarg herum und weinen um mich. Sie bereuen, dass sie so kalt zu mir gewesen sind und ich ihretwegen jetzt tot bin. Dann ziehe ich die Decke über meinen Kopf. Tot sein tut wenigstens nicht weh!
    Heute kommen Mama und mein Brüderchen nach Hause. Ich stehe früh auf, kontrolliere die Babywiege, die Wickelkommode, die kleinen Jäckchen und Hemdchen, die Mama vorbereitet hat, bevor sie ins Krankenhaus verschwand. Wochenlang habe ich jeden Pfennig meines Taschengelds gespart und gestern in einem Kindergeschäft ein Spitzenlätzchen gekauft. Die Verkäuferin hat es liebevoll in weißes Seidenpapier gepackt und eine hellblaue Schleife darumgebunden. Ich lege das Geschenk auf das Kissen im Babybett.
    In der Küche versucht Heinrich verzweifelt, das Chaos zumildern, aber es wird

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