Kindermund (German Edition)
müssen ausziehen, finden aber schnell eine viel billigere Wohnung in Schwabing.
Weil das Magengeschwür hartnäckig bleibt, werde ich in ein Sanatorium am Tegernsee verfrachtet. Die Ärzte nennen mich das Küken. Nach mir kommt fünfzig Jahre nichts. Trotz Apartment mit Bad und Fernseher und einem Swimmingpool im Garten halte ich es dort nicht aus: täglich Spritzen in den Po, vor jeder Diätmahlzeit eine Schüssel Haferschleim. Die Gespräche der Omas auf den langen Waldspaziergängen langweilen mich zu Tode. Ich habe das Gefühl, das Leben zu verpassen. Ich will zurück nach München.
Nach dreieinhalb Wochen verlasse ich das Sanatorium gegen den Rat der Ärzte. Als ich nach Hause komme, trifft mich der Schlag. In meiner Wohnung hat sich ein Haufen Leute breitgemacht, die Rote Hilfe München. Sie werden von meinem Freund beherbergt. Wenn sie bei Bier und Rothändle ihre Sitzungen abhalten, muss ich den Raum verlassen: Ich bin ja nur die bourgeoise Tusse, deren Hütte sie nutzen, bis sie das ausgewählte Haus besetzen werden. Sie haben die Wände mit »Brecht die Macht der Hausbesitzer!« beschmiert. Über der Badezimmertür steht: »Es muss mehr geputzt und mehr gefickt werden!« Matratzen und Kissen sind abgezogen, sie schlafen alle in einem Zimmer auf dem Boden, neben-und übereinander, auch mein Freund. Ich fühle mich einsam, mir ist kalt. Aber es ist mein Zuhause! Wo soll ich denn hin? Neben der Küche gibt es noch ein winziges Zimmerchen, das wird mein Märchenschloss. Ich stopfe eine Matratze hinein, lege einen Teppich davor, stelle vieleKerzenleuchter auf, zünde Räucherkerzen an. Nachts schleiche ich in den Raum, in dem alle pennen. An der Tür halte ich mir kurz die Nase zu: Es stinkt nach verbrauchter Luft, Zigaretten und Fußschweiß. Ich steige über Schlafsäcke, taste mich an Rücken entlang, ich finde Hans, er schnarcht. Ich betrachte ihn, er ist mir fremd. Er hat sich der politischen Idee verschrieben, da sind Gefühle zweitrangig. Also krieche ich in mein Zimmerchen zurück, rolle mich ein.
M onate später kommen Babbo und Geneviève zurück. Mein Vater stolziert durch die Räume der Wohnung, die er gemietet hat, und schmiert mit großer Geste mit Pinsel und Tusche japanische Schriftzeichen an die weißen Wände. Ich muss ihn dabei begleiten und bewundern. Er übersetzt mir jeden Strich, jeden Punkt, jeden Tupfer. Er kann mir alles erzählen, ich kann es ohnehin nicht überprüfen. Wie üblich liegen aufgeklappte Koffer auf dem Boden. Es ist nicht leicht, den Weg zwischen ihnen zu finden. Die Wohnung quillt über von Trophäen aus fremden Ländern und Kulturen, die sie besucht haben. Ich konzentriere mich, nirgendwo draufzutreten. Mein Vater hat mir Khol aus Indien, Schmuck aus Istanbul, Parfüm aus London mitgebracht. Er will mir auch eine der Hängematten schenken, die sie in Mexiko gekauft haben. Sie sind aus Seidenfäden in allen Regenbogenfarben geknüpft. Ich finde sie wunderschön. Beschämt muss er mir schließlich gestehen, dass Geneviève nicht will, dass ich eine bekomme. Es gibt von jeder Farbkombination zwei gleiche, und sie möchte im Partnerlook mit ihm schaukeln. Sie haben zwanzig Stück davon!
Dagegen rät sie ihm, mir doch die Sachen zu schenken, die sie beide hässlich finden, nicht mehr brauchen und wegwerfen wollen. Mein Vater ist außer sich vor Zorn. Er beschimpft sie und tobt, brüllt: »Das könnte dir so passen! Das, was wir wegwerfen, soll gut genug für Pola sein!« Ich sage kein Wort, sondern genieße, dass er mich verteidigt. Dieses Gefühl kenne ich nicht. Die Gattin schmollt.
Er grapscht nach mir, wann immer er mich erwischt, will mich zu sich ins Bett ziehen, ich sträube mich. Er versucht mich mit Geschenken, mit Geld gefügig zu machen, ich weigere mich. Nicht immer gelingt es mir, ihm zu entkommen.
In München bereitet mein Vater seine bevorstehende Jesus-Christus-Erlöser -Tournee vor. Er fühlt sich seelenverwandt mit Jesus. Mit dem Text, den er vorträgt, meint er eigentlich sich selbst. Wie Jesus ist er ein Verfolgter, ein Verkannter, ein Weiser, ein Genie.
Den Rückflug aus Asien hat er in London unterbrochen, um sich in der Carnaby Street für die Vorstellungen auf Deutschlands Bühnen einzukleiden. Diese Garderobe führt er mir jetzt in einer privaten Modenschau vor: Samthosen in Türkis, Giftgrün, Kanariengelb, sogar Barbiepink. Geblümte Blusen mit Trompetenärmeln. Er gockelt auf Stöckelstiefeletten in Schockfarben durchs Zimmer, dreht sich
Weitere Kostenlose Bücher