Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
Vom Netzwerk:
sitzen, sondern darf am Tisch im Wohnzimmer essen. Ich verstehe das nicht, ich fühle mich verraten. Warum tut sie das? Sie kümmert sich um das Kind der Frau meines Vaters, als wäre es ihr eigenes. An mir hat sie kein Interesse. Ich bin doch ihre Tochter! Warum ist sie so kalt zu mir?
    Biggi packt aus, richtet ein, hört Jimi Hendrix, The Doors, Cream. Bald ist die Wohnung voller Freunde. Mir gefällt das pralle Leben in unserem Zuhause. Vor allem, weil ich mich zum ersten Mal richtig verliebt habe. Er heißt Hans, ist dreiJahre älter als ich und besucht die Handelsschule. Ich bin jetzt siebzehn Jahre alt. Mein Freund darf bei mir in meinem Zimmer, in meinem Bett schlafen. Ein Nest für uns zwei! Ich schwebe auf Wolken.
    Leider ist die Harmonie in der Wohnung nur von kurzer Dauer. Biggi und ich streiten viel. Sie petzt bei meinem Vater, der mich am Telefon anfleht, nachzugeben und mich bei ihr zu entschuldigen. »Ich beschwöre dich! Sie hat so viel mit mir durchgemacht! Ich bin auf deiner Seite! Aber bitte entschuldige dich bei ihr! Ich kaufe dir alles, was du willst!« Ich gehorche, quetsche Entschuldigungen raus, obwohl ich mich im Recht fühle. Biggi triumphiert. Die Streitereien nehmen zu, werden immer hässlicher. Irgendwann lässt sie mir über meinen Vater ausrichten, dass ich mir eine eigene Wohnung suchen soll. Die ist bald gefunden. Drei Zimmer mit Terrasse in einem Garten im Herzogpark sind meine feine neue Adresse.
    Mein Vater verspricht mir eine komplette Luxuseinrichtung. Mein Freund und ich vermessen die Räume, planen, suchen die teuersten Teppichböden aus, Stoffe für Vorhänge und Sofas, aus denen ich nie mehr aufstehen möchte. Wir verbringen viele Stunden in den teuren Einrichtungshäusern und träumen von einer gemeinsamen Zukunft in unserem Paradies. In Wirklichkeit ziehen wir mit zwei Matratzen, einem Stück Stoff, das wir mit Reißnägeln am Fensterrahmen befestigen, einem Beistelltisch, zwei Korbstühlen, einem alten Herd ein. Alles Almosen von Verwandten. Die Nachbarin drückt sich im Treppenhaus hinter Säulen herum und fragt neugierig: »Wann kommt denn der Möbelwagen?«
    »Bald, nächste Woche«, lüge ich. Ich glaube selbst daran. Aber es gibt keine Einrichtung und keinen Möbelwagen.
    Die Miete wird nur bezahlt, wenn es meinem Vater gerade passt. Rufe ich ihn per R-Gespräch an, bitte ihn um das Geld dafür, schnauzt er: »Wir haben selbst nichts zu fressen!« Den Hausverwalter lüge ich an: Die Sekretärin habe schonwieder die Miete an eine falsche Bank überwiesen, Aufträge verschlampt. Ich tue alles, um Zeit zu gewinnen, denn mein Freund und ich können die hohe Miete unmöglich selbst bezahlen. Wir sind nicht in der Lage, allein zu existieren. Seine Mutter und ihr Lebensgefährte ernähren uns. Regelmäßig schleppen sie Tüten voller Lebensmittel, vom Schnitzel bis zur Schokolade, in unsere Höhle. Meine Mutter wäscht manchmal die Wäsche.
    Gymnasium und Abitur interessieren mich nicht mehr. Dafür begeistere ich mich fürs Theater. Meine Mutter meldet mich zur Aufnahmeprüfung an der Otto-Falckenberg-Schauspielschule an. Ich gehe in einen Buchladen und frage nach geeigneten Stücken, da ich keine Ahnung habe. Ein sehr freundlicher Buchhändler rät mir zu Der gute Mensch von Sezuan von Brecht, Dantons Tod von Büchner und Wie es euch gefällt von Shakespeare. Ich kaufe die Bücher und lege sie zu Hause ab, ohne sie jemals zu lesen. Drei Tage vor der Prüfung suche ich mir aus jedem Stück eine Szene aus, lerne sie auswendig und spiele sie einer befreundeten Schauspielschülerin vor. Die muss mir auch den Inhalt der Stücke erzählen, denn ich habe nicht die Geduld, sie zu lesen. Am Prüfungstag marschiere ich ziemlich unbefangen auf die Bühne, krame ein Haargummi aus der Tasche meiner Jeans und frage in den dunklen Zuschauerraum, in dem ich die Prüfer vermute, ob ich mir die Haare zusammenbinden soll. Gelächter. Ich verstehe nicht, warum sie lachen, binde mir aber einen Pferdeschwanz. Dann spiele ich völlig ohne Angst die Szene aus Der gute Mensch von Sezuan , in der Shen-The mit ihrem ungeborenen Kind spricht. Es ist ein Pantomimenspiel, wenn sie das Kind zum Kirschbaum hochhebt, damit es die Kirschen besser erreichen kann, und sie dann gemeinsam Kerne in die Luft spucken. Hand in Hand spaziert sie mit ihm durch die Welt, zeigt ihm alles, auch den Wasserverkäufer.
    Meine kleine Vorstellung ist begleitet von viel Lachen. Dieanderen Szenen wollen sie nicht mehr sehen.

Weitere Kostenlose Bücher