Kindermund (German Edition)
Ich bin aufgenommen.
Jeden Morgen fahre ich mit dem Fahrrad quer durch München in die Schauspielschule. Oft komme ich zu spät. Ich fahre Umwege. Ich muss das tun.
Mein Freund bricht die Handelsschule ab, liegt zu Hause auf der Matratze und philosophiert, das heißt, er bildet sich weiter. Er hat strengste Anweisung, auf keinen Fall ans Telefon zu gehen. Einmal tut er es trotzdem. Mein Vater schreit, bis er nur noch krächzen kann: »Wer war dieser Kretin! Dieser Analphabet! Dieses Schwein?! Fickt der dich etwa?!«
»Nein, nein, es war nur der Bruder meiner Freundin, er war mit ihr bei mir zu Besuch, damit er sie auf dem Nachhauseweg beschützen kann!«, stottere ich. Das Gebrüll am anderen Ende der Leitung lässt nicht nach. »Es ist der erste und letzte Kerl, der diese Wohnung betreten hat, hörst du! Keiner hat das Recht, dich anzufassen, keiner! Hast du mich endlich verstanden!«
»Ja, ich habe verstanden!«, wimmere ich.
Er befiehlt mir, zu ihm nach Rom zu kommen. Er schleift mich mit seiner Freundin in Discos, in die ich nicht will. Ich muss mit ihm und ihr gemeinsam auf einem riesigen beleuchteten Würfel tanzen. Mein Kleid ist so kurz, dass jeder meinen Slip sehen kann. Mein Vater verbiegt und verrenkt sich zu einer Musik, die meiner Altersgruppe gilt. Er wirkt so lächerlich, so peinlich. Die Leute tuscheln, kichern, lachen. Ich will sofort sterben vor Scham.
Später am Abend muss ich meinen Freund mit ihm betrügen.
Danach legt er sich zu seiner Freundin ins Bett. Ich steige in die oberste Kammer im Turm. Dort, wo die Schreibmaschine steht. Ich will Stroh zu Gold spinnen. Das heißt, ich will unbedingt, dass er mich lobt. Bis es in der Kammer hell wird, bis meine Fingerspitzen taub sind, tippe ich mit zweiFingern Seite für Seite des Drehbuchs, das er geschrieben hat. Habe ich eine Seite endlich geschafft, verhöhnt mich ein Kommafehler. Ich reiße das Blatt aus der Maschine. Tränen tropfen auf meine Hände. Ich fange von vorne an.
Oft genug finden mich die Angestellten oder mein Vater über der Maschine zusammengesunken vor Erschöpfung.
Die Magenschmerzen und die Übelkeit hören nicht auf, sie werden immer schlimmer. Nach gründlichen Untersuchungen stellen die Ärzte ein großes inoperables Magengeschwür am Mageneingang fest und viele Narben vergangener Geschwüre. Ich höre sofort auf zu rauchen und esse ein Jahr lang nur gedünstetes Kalbsschnitzel, Knäckebrot und Haferschleim.
M ein Vater mietet für ein halbes Jahr eine Wohnung in München. Er wird in Kürze mit Werner Herzog nach Peru fliegen, um monatelang auf dem Amazonas den Film Aguirre, der Zorn Gottes zu drehen. Ich muss täglich zu ihm kommen, um Geneviève Gesellschaft zu leisten, während er Termine hat. Sie ist jetzt seine Gattin, er hat sie vor kurzem in Rom geheiratet. Die Gattin leidet an dem Anflug einer Gastritis. Obwohl ich ein Magengeschwür habe, muss ich sie pflegen. Dafür werde ich reichlich entlohnt, besser als jede Krankenschwester. Wenn ich komme, sage ich bestimmte Codes hinter der Tür auf, damit sie öffnet. Bevor ich komme, muss ich anrufen. Sie nimmt den Hörer ab, sagt kein Wort. Erst nachdem ich »Hallo« gerufen habe, gibt sie sich zu erkennen. Sie sitzt den ganzen Tag elegant auf Kissen und stickt Blümchen oder näht Samtbändchen an Trägerhemdchen. Oder sie kocht Suppen mit bleichem Hühnerfleisch und einem Hauch von Gemüse. Wir sprechen kaum miteinander. Mir fällt auch nichts ein, worüber ich mich mit ihr unterhalten könnte.
Kommt er nach Hause, wird sie von ihm bemitleidet und gepflegt. Dass ich wirklich krank bin, und warum, interessiert niemanden.
Mein Vater bittet mich, mit ihnen zum Amazonas zu fliegen. Sie werden auf Wohnflößen leben und auf anderen Flößen drehen. Er möchte nicht, dass seine Frau eine einzige Sekunde ungeschützt und allein bleibt. Deshalb soll ich mitkommen. Mich gruselt bei dieser Vorstellung: monatelang eingesperrt auf einem Floß im Amazonas, dieser trüben Brühe, in der es von Krokodilen und Piranhas wimmelt. Hoffnungslos ihren Launen und seiner Gewalt ausgeliefert! Nirgendwohin fliehen können! Mein Nein kommt diesmal so bestimmt, dass er nicht versucht mich zu zwingen. Ichbin erstaunt über die Kraft in meiner Stimme. Nach Peru werden sie noch Mexiko, Japan, Vietnam, die Türkei und weitere Länder bereisen. Ich verzichte gerne.
Das Lügengerüst, das ich für den Hausverwalter aufgebaut habe, bricht endgültig in sich zusammen. Mein Freund und ich
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