Kindermund (German Edition)
um sich selbst. Die Blusen flattern wie Sommerkleidchen, seine blonde Langhaarmähne fliegt mit. Dabei sieht er mich herausfordernd an. Ich weiß nicht, wohin ich schauen soll, ich finde ihn peinlich und erbärmlich, bestätige ihm aber natürlich, wie wundervoll er Farben, Schnitte und Stoffe ausgesucht hat und wie phantastisch ihm alles steht. Wenn ich mir vorstelle, dass er in diesem Outfit auf die Bühne steigt und vor die Leute tritt, möchte ich im Boden versinken vor Scham. Ich sehe jetzt schon die tobende Menge, höre Salven von schallendem Gelächter.
Manchmal darf ich mitkommen zu den Treffen mit der Band, die ihn begleiten wird. Die Musiker schleimen sich bei ihm ein: »Herr Kinski, Sie sehen aus wie zwanzig!«
»Ich bin zwanzig!«, kokettiert er. »Das hier ist meine Schwester! Ich sage immer nur Tochter – in Wirklichkeit ist sie aber meine Schwester!« Das alles macht mich fassungslos, ich empfinde ihn als krank und voller Komplexe. Dieser Blick auf ihn ist neu für mich. Früher habe ich ihn bedingungslos bewundert. Ich spüre eine leise Ahnung von Distanz.
Mein Vater, seine Gattin und ich lungern in der Münchner Wohnung herum. Die Atmosphäre ist entspannt. Mein Vaterthront zufrieden auf seinem Bett. Ich wage zum ersten Mal in meinem Leben, ihm eine Frage zu stellen, ein Gespräch mit ihm zu führen. Da ich selbst Schauspielerin werden will, interessiert mich dieses Thema sehr. »Machst du die Jesus -Tournee aus Überzeugung oder des Geldes wegen?«
Stille. Das Schweigen breitet sich aus wie eine Druckwelle, eine Wand baut sich drohend vor mir auf. So wild habe ich die Lippen noch nie zucken sehen. Beide Nasenflügel beben. Gleich wird er sich auf mich stürzen! Ich will fliehen. Ich komme nicht mehr weg. Die Monsterwelle bricht über meinem Kopf, sie wird mich zermalmen.
»Du wirst mir nichts von Passion, vom Enthusiasmus eines Schauspielers erzählen! Ich bin tausendmal sensibler als du! Was soll diese beschissene Frage überhaupt!? Du hast nichts kapiert! Man sollte dich gegen die Wand knallen! Was heißt da des Geldes wegen, hä! Keiner auf dieser beschissenen Welt macht auch nur einen Strich ohne Geld! Verstehst du! Niemand! Für Geld machen sie alles, ohne Geld machen sie nichts! Wie kommst du überhaupt dazu!«
Das Geschwür platzt auf meinem Kopf, Eiter rinnt über mein Gesicht, tropft auf meine Hände. Eimer von Kotze wälzen sich zäh und stinkend an mir herunter. Ich stöhne, ringe nach Luft, er schreit, kreischt, seine Stimme überschlägt sich, die Stimme versagt.
Ein Monster! Aus dem aufgerissenen Maul dringt Schaum, er bildet Klumpen in den Mundwinkeln. Ich muss raus hier! Mit letzter Kraft wanke ich zur Tür, begleitet von Beschimpfungen und Beleidigungen. Im Treppenhaus, noch auf der Straße ist sein Geschrei, sein Gebrüll zu hören.
Ich spüre mich nicht, bin in einer Glaskugel, laufe neben mir her. Die Menschen, die mir begegnen, bleiben stehen, schauen mir nach, als wäre ich nackt oder verrückt. Ich schleppe mich zum Haus einer Bekannten, die in der Nähe wohnt. Bis dorthin zähle ich alle Pflastersteine auf dem Weg vor mir, ich darf auf keine Linie treten, sonst …
Ich drücke lange auf den Klingelknopf. Gisela öffnet. Ich blicke in ihr entsetztes Gesicht. »Komm rein!« Sie führt mich in ein Zimmer, in dem eine Runde von Leuten beisammensitzt, sie verschwimmen vor mir, mir wird schwindlig, ich breche weinend zusammen.
Diese Nacht darf ich bei Gisela auf einem liebevoll bereiteten Lager schlafen. Mein Kopf schmerzt. Mein Vater spürt es, er weiß es, er will es sich nicht eingestehen. Er ist längst nicht mehr der, der er vorgibt zu sein: der ungestüme Rebell, wild, unbezähmbar, bedingungslos. Der jeden Kompromiss hasst, dem jedes Mittelmaß zuwider ist. Der bis zur Selbstaufgabe für Wahrhaftigkeit, Liebe, seine Ziele kämpft und jeden anfällt, der sich ihm dabei in den Weg stellt. Er hat seine Passion verloren. Vorausgesetzt, dass er jemals eine hatte. Er ist verkommen zur Karikatur seiner selbst.
D ie Mitglieder der Roten Hilfe München besetzen ein Mietshaus in Schwabing. Sie hinterlassen mir Dreck, Gestank, eine Stromrechnung von 400,– DM und eine Telefonrechnung von 900,– DM. Mein guter alter Onxganx bezahlt die Schulden für mich.
Hans und ich haben uns nichts mehr zu sagen, wir trennen uns. Er fliegt zu einem Freund nach Argentinien, will dort ein neues Leben anfangen, ich glotze die Wände an, die Wände glotzen gelb und dick zurück. Ich halte
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