Kindermund (German Edition)
an.
»Wir müssen sofort gehen!«
»Und dein Vater?«
»Der wird es überleben! Komm, wir hauen ab!« Ich zerre sie auf die Straße.
Es ist schon spät, die Kälte kriecht unter meine Kleider. Ich fange an zu rennen.
»Was hast du eigentlich?«, ruft Patrizia.
»Das kann ich dir nicht erklären, komm!« Die Angst treibt mich an, ich renne. Ich habe das Gefühl, der Teufel greift mit langen Fingern nach uns.
Früh, als Patrizias Familie noch schläft, fahre ich mit dem Taxi zu ihm ins Hotel. Er verliert kein Wort über meinen jähen Aufbruch, das wundert mich. Ab heute werde ich bei ihm im Hotel wohnen. Er hat ein Zimmer für mich bestellt.
Die folgenden Tage hetzen mein Vater, sein Schatten und ich von Maklertermin zu Maklertermin, von Wohnung zu Wohnung. Der Mercedes 500 Pullmann, den er samt Chauffeur für die Tage in München gemietet hat, kurvt schwerfällig durch die Straßen. An jedem Objekt hat mein Vater etwas auszusetzen. Die Laune wird schlechter. Bei einem Abendessen lernen wir einen jungen Grafen kennen. Er ist stinkreich, fährt Rolls-Royce. Mit seinem Millionärsgehabe imponiert er meinem Vater. Als er ihm auch noch eine Luxuswohnung in der besten Gegend Münchens für 3500 Mark Miete im Monat anbietet, gerät mein Vater aus dem Häuschen vor Begeisterung. Ich warte darauf, dass er dem Grafen auf den Schoß springt und ihn küsst. Die beiden schaukeln sich gegenseitig hoch mit ihrer Wichtigtuerei und Exzentrik: Lippen zucken, Gebisse werden gefletscht. Beide fahren sich ständig durch die Mähne, werfen den Kopf zurück. Hände wirbeln in der Luft, sie reden immer schneller. In den Mundwinkeln meines Vaters kleben wieder Schaumklümpchen. Es sieht unappetitlich aus. Ich schaue weg.
Anschließend besichtigen wir die Wohnung in einem Terrassenhaus im Bonzenviertel Herzogpark. Sie ist wirklich wunderschön: großzügig, sechs Zimmer mit edlen Möbeln eingerichtet. Glasfronten gewähren Aussicht über München. Ich suche mir heimlich mein Lieblingszimmer aus und stelle mir vor, wie ich am Sekretär meine Schularbeiten mache, meine Kleider sorgfältig in den Schrank räume, vom Bett aus über München blicke.
Der Vertrag wird unterschrieben, mein Vater und der Graf sind zufrieden. Ich könnte schreien vor Glück. Die Freundin schaut unbeteiligt ins Leere. Biggi und Nastja werden sich freuen!
Der Chauffeur bringt uns zum Hotel. Morgen werden mein Vater und sein Schatten zurück nach Rom fliegen. Wie froh ich bin! Zum Abschied überrascht er mich mit einem Geschenk für mich und meine Freundin: Die Stretchlimousine steht uns samt Chauffeur noch einen ganzen Tag lang zur Verfügung. Patrizia und ich sind außer uns. Wir putzen uns raus, als würden wir auf eine Party gehen, fläzen uns auf die Rückbank, lassen die Scheiben runter, hängen die nackten Füße aus den Fenstern. Wir lassen uns durch Schwabing chauffieren. Der Chauffeur muss vor allen In-Kneipen anhalten und uns die Türen aufhalten. Wir staksen ins Café, drehen eine Runde, lassen uns kurz darauf vom Chauffeur zurück in den Wagen helfen. Alle Leute glotzen mit offenen Mäulern. Ich komme mir vor wie die Freundin von Mick Jagger.
Mein Vater hat einmal zu mir gesagt: »Wenn man wirklich reich ist, kann man sich erlauben, barfuß aus dem Rolls-Royce zu steigen!« Das hat mir sehr imponiert.
H eute werden wir offiziell in die Wohnung einziehen. Biggi und meine Schwester kommen aus Berlin. Seit mein Vater wieder zurück nach Rom gereist ist, habe ich auf dem Sofa im Wohnzimmer meines Stiefvaters und meiner Mutter geschlafen. Im Moment ist sie einkaufen. Ich bin so aufgeregt, dass ich nicht warten will, hier abgeholt zu werden, sondern mich zu Fuß auf den Weg in mein neues Zuhause mache. Unterwegs begegne ich meiner Mutter. Sie schleppt volle Einkaufstüten. »Wo gehst du hin?«, fragt sie mich unsicher.
»In meine Wohnung zu Biggi und Nastja.«
»Du hast eine eigene Mutter!« Sie sieht mich lange an. Ihr Blick tut mir weh.
Ich drehe mich um und gehe davon in mein neues Leben.
Wir drei verstehen uns anfangs sehr gut. Biggi hat nichts dagegen, dass ich in das Zimmer ziehe, das ich in Gedanken schon bewohne. Nastja und ich gehen zur Schule. Sie besucht meine ehemalige Grundschule. Ich ein Gymnasium in der Innenstadt. Als ich erfahre, dass meine Mutter regelmäßig vor der Schule auf meine Schwester wartet, sie mit nach Hause nimmt, ihr Essen kocht, sie umsorgt, bin ich tief verletzt. Nastja muss auch nicht am Brett über dem Abfalleimer
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