Kindermund (German Edition)
es nicht aus allein in der leeren Wohnung, verbringe die Nächte in den Discos, bis sie schließen. Meine Gier nach Liebe und Geborgenheit ist so groß, dass ich ständig wechselnde Liebhaber mit zu mir nehme. Ich brauche die Nähe, die Zuwendung und verwechsle Lust mit echten Gefühlen. Mir ist das egal, ich mache mich tot. Das kenne ich.
Ich bin so unglücklich, so erbärmlich unglücklich.
In dieser Zeit weine ich mich oft bei Onxganx aus. Die Patina in Bad und Küche stört mich nicht mehr und den Geruch nehme ich kaum mehr wahr. Stundenlang versinke ich in einem der weichen Ohrensessel und lasse ihn von der Vergangenheit erzählen. Ihm tut es gut und mir auch.
»Eigentlich sollte ich dich bei mir aufnehmen«, sagt er einmal. Ich schaue ihn verwundert an. »Aber ein Problem gibt es dabei: Du würdest mir den ganzen Kühlschrank leer essen!« Auf dem Tisch neben mir am Fenster steht eine kleine Schale. Die untergehende Sonne malt Regenbogenfarben ins blinde Glas. Eine Ausgrabung aus der Römerzeit? Ich frage Onxganx, woher sie stammt. »Das ist keine Ausgrabung! Das ist meine Müslischüssel!« Ich lächle in mich hinein.
Dann beichte ich ihm meinen Herzenswunsch. In einem Schaufenster in Schwabing stehen meine Traumstiefel. Royalblaues Nappaleder, hauteng bis zum Knie, mit vierZentimeter dicker Plateausohle und zwölf Zentimeter hohen Absätzen. Unzählige Male habe ich sie angeschmachtet, mehrmals schon anprobiert. Diese Stiefel sind mein größter Wunsch. Er nickt und sieht mich mit traurigen Augen an.
Ich verabschiede mich von ihm, küsse ihn auf seine feinen Hände. Wie eine Kommunionskerze halte ich die zweihundert Mark in der Hand, als ich das Schuhgeschäft betrete. Der Verkäufer holt mir die Stiefel aus dem Schaufenster, ich ziehe sie an und betrachte mich im Spiegel. Ich finde mich hübsch: blonde lange Haare, schmale Gestalt in enger Jeans. Die Stiefel funkeln an jetzt endlos wirkenden Beinen wie blaue Diamanten. Der Verkäufer ist auch begeistert. »Steht dir toll! Wie für dich gemacht!«, säuselt er und grinst mich an. Ich grinse zurück und stakse auf die Straße. Ich bin unendlich stolz!
Das besetzte Haus wird von der Polizei geräumt. Die Hausbesetzer sind jetzt obdachlos und wollen sich wieder bei der bourgeoisen Zicke einnisten. Ich lasse sie nicht mehr in meine Wohnung. Der Anführer, ein Andreas-Baader-Verschnitt aus Berlin, der sich für unwiderstehlich hält und dem alle Weiber an den Lippen hängen, tritt gegen die Tür. Als ich ihm zurufe, dass er verschwinden soll und ich ihm nicht aufmachen werde, droht er mir, die Tür einzuschlagen. Ich lasse mich nicht zwingen. Irgendwann trollt er sich. Gegen die Tobsuchtsanfälle meines Vaters ist sein Geschrei lachhaft.
Ich fühle mich einsam, mein Leben erscheint mir sinnlos. Die Schauspielschule interessiert mich auch nicht mehr. Trotzdem engagiert mich der Intendant Peter Zadek nach Bochum ans Theater für ein modernes Stück. Das Mädchen, das ich spielen soll, ist verrückt. Sie lebt unter dem Küchentisch und regiert von dort aus die Welt. Ich übernachte in Bochum auf einem Feldbett in einer völlig leeren Wohnung oder bei einem hilfsbereiten Kollegen vom Theater. Wenn seine Freundin zu Besuch kommt, darf ich auf dem Teppichim Bad schlafen. Ich rolle mich um die Kloschüssel. Das ist gar nicht unbequem, denn der Teppich ist flauschig.
Der Theaterbetrieb überfordert mich völlig. Ich bin zu jung, zu unerfahren, kann mir die Rolle nicht vom Leib halten. Nach einigen Wochen quälen mich Magenschmerzen und Heimweh. Ich werde krank, breche das Engagement ab. Zurück in München, hole ich mir erneut Kerle in die Wohnung. Wahllos. Szenetypen, Schmarotzer, Obdachlose, Fixer. Ich werde ausgenutzt und bestohlen. Auch von Freundinnen, denen ich meine schönsten Kleider ausleihe. Viele melden sich nicht mehr, und eine behauptet, in ihrem Zimmer sei ein Feuer ausgebrochen und alle Sachen seien verbrannt. In einer Wohngemeinschaft entdecke ich meine Kerzenleuchter. Der Typ, der vorher kurze Zeit bei mir gewohnt hat, besteht darauf, sie auf dem Flohmarkt gekauft zu haben. Sein Geschwätz interessiert mich nicht, ich packe meine Leuchter und gehe.
Am wohlsten fühle ich mich noch auf der Tanzfläche. Die Besitzerin einer Prominentendisco spricht mich an. Sie möchte, dass ich in ihrem Club tanze, allein, in aufreizender Kleidung. Dafür bezahlt sie mich. Ich tanze jede Nacht, stundenlang. Die Bässe hämmern in meinem Magen. Ich drehe mich
Weitere Kostenlose Bücher