Kindermund (German Edition)
weiter, immer schneller, immer wilder, bis mir schwindlig wird. Die Blicke der Männer brennen auf meiner Haut. Ich genieße ihr Verlangen nach mir. Nur dann spüre ich mich, nur dann bin ich am Leben. Ich locke sie oder reize sie so lange, bis sie über mich herfallen wollen. Oft genug lasse ich sie dann stehen. Das alles gibt mir ein Gefühl von Macht. Aber wenn ich in einer fremden Wohnung aufwache oder überlege, wie ich den schlafenden Kerl neben mir aus meinem Bett kriegen soll, fühle ich mich klebrig, schmutzig. Schuldgefühle quälen mich. Ich stürze aufs Klo, ramme mir die Finger in den Hals. Ich will auskotzen, was ich getan habe, es rückgängig, ungeschehen machen. Dann fühle ich mich einen Moment lang befreit, lüge mir vor, es hätte nichtstattgefunden. Wie im Rausch muss ich jeden Abend aufs Neue losziehen. Mein Leben ist perspektivlos, es gerät völlig aus den Fugen.
Hans kehrt aus Argentinien zurück, im Schlepptau eine Theatergruppe mit ihren Familien. Es sind Frauen und Männer zwischen dreißig und fünfzig, und alle sind sie aus Buenos Aires und Marxisten. Sie kämpfen für ihre politischen Ideale, spielen auf der Straße, verteilen Flugblätter. Oft wissen sie nicht, wovon sie am nächsten Tag Essen für ihre Kinder kaufen sollen. Hans hat für sie Gastspiele in Europa organisiert. Ihr erster Auftritt mit ihrem Stück Watercloset findet in München statt.
Während die Zuschauer ihre Plätze suchen, der Saal sich füllt, sitzen die Schauspieler schon auf der Bühne auf dem Fußboden, voneinander abgewandt, jeder für sich allein, sie schweigen und sehen das Publikum unverwandt an, lange, völlig ruhig. Dieses Schweigen erzeugt eine ungeheure und sehr konzentrierte Anspannung. Die Halle knistert. Die Zuschauer sind getroffen von der Stille – dann bricht ein Orkan von entfesselten Gefühlen über die Schauspieler herein: Brüllen, Toben, Trampeln. Es hört einfach nicht auf.
An diesem Abend beschließe ich, mich der Truppe anzuschließen, mit ihnen weiterzuziehen. Ihr Lebensgefühl rührt mich an.
Die Leute reagieren auf meinen Entschluss skeptisch, nehmen mich nicht ganz ernst. Wir kommen aus Welten, die unterschiedlicher nicht sein können. Aber sie finden meine Begeisterung rührend und willigen schließlich ein, dass ich sie begleite. Der nächste Auftritt findet in Palermo statt. Die Schauspieler mit Kindern fliegen voraus, ich werde mit den anderen in einem alten Mercedes-Bus durch ganz Italien, dann weiter mit dem Schiff und schließlich durch Sizilien bis nach Palermo reisen.
M eine Spannung steigert sich bis zu dem Moment, als ich mit einer Tüte auf den Knien endlich in der hintersten Reihe im Mercedes-Bus sitze, die Türen geschlossen werden und Paolo den Motor startet. Wir brechen auf Richtung Süditalien.
Ich bin total aufgeregt, erwartungsvoll. Was werde ich erleben? Was kommt auf mich zu? Welches Leben lasse ich zurück? Schauspielschule und Theaterengagement habe ich abgebrochen, die Wohnung aufgegeben, es gibt keinen Menschen, dem ich nahe bin.
Zehn Menschen richten sich auf drei Bänken ein, so gut es eben geht. Nachdem sie eine Weile gerückt und gerutscht sind, sich gestreckt und gekrümmt haben, schlafen sie nacheinander ein. Ich klebe an der Fensterscheibe, möchte alles, was vorbeifliegt, mitnehmen. Aber das gleichmäßige Brummen des Motors macht müde. Es fällt mir schwer, die Augen aufzuhalten.
Mehrmals ertappe ich mich beim Einschlafen, dann reißt es mich hoch, und ich sitze kerzengerade, bis ich wieder in mich hineinrutsche. Viele Stunden vergehen.
Ein Schlag, ich werde gegen die Lehne des Sitzes vor mir geschleudert, Menschen und Dinge stürzen übereinander. Eisen ratscht über Asphalt. Funken sprühen am Fenster vorbei. Ein letzter Ruck, Stille, wir hängen schief. Keiner rührt sich. Paolo löst sich als Erster aus der Erstarrung, steigt aus, läuft um den Bus herum. Er will nachschauen, was passiert ist. Schnell stellt sich heraus: Etwas ist gebrochen, und wir haben die beiden Hinterreifen verloren. Dass wir noch leben, haben wir dem Umstand zu verdanken, dass unser Fahrer pinkeln musste und er den Bus gerade ausrollen ließ.
Nach dem ersten Schock überlegen alle, wie wir jetzt nach Palermo kommen sollen. Der Bus muss auf alle Fällerepariert werden, da er außer uns auch die Bühnendekoration transportiert. Es wird entschieden, dass sich Pola auf der Stelle per Anhalter auf den Weg nach Rom macht, um bei ihrem Vater Geld zu besorgen. Die anderen
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