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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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Mensch. Und jetzt macht seine Tochter genau das!
    Wir halten vor den Umrissen des Mercedes-Busses. Kein Licht im Innern, er wirkt verlassen, die Leute schlafen wohl. Mein Vater öffnet mir die Beifahrertür, drückt mich fest an seinen Körper, lange, viel zu lange. Seine Wärme, sein Geruch machen mich panisch. Er lässt mich nicht los, kreist seine nasse Zunge in meinem Ohr, flüstert: »Du kommst!« Ich kann ihn kaum verstehen, aber ich nicke. Dann löse ich mich aus der Fesselung, laufe zum Bus und drücke den Türgriff in die Freiheit. Der Motor des Sportwagens heult auf, dann wird er leiser, leiser …
    Behutsam schließe ich die Bustür wieder und setze mich auf die spitzen Steine. Die letzten Stunden haben mich aufgewühlt. Plötzlich habe ich Lust, meine Stiefel auszuziehen. Die Reißverschlüsse ratschen, das Geldbündel fällt mir vor die Füße. Ich fange an zu zählen. Umgerechnet 2000 Mark hat er mir gegeben. Nicht schlecht. Ich werde den anderendie Höhe der Summe nicht verraten. Es geht niemanden etwas an, wie viel Geld mir mein Vater gibt.
    Überhaupt, was habe ich mit diesem blöden Bus zu tun! Ist doch nicht meine Schuld, dass sie eine so billige Karre gekauft haben, die gleich ihre Reifen verliert. Die Leuchtreklame flackert immer noch. Sie wirkt ärmlich gegen das Licht des nahenden Tages. Ich lege mich auf den Rücken, die Steine stechen mich, aber bald spüre ich sie nicht mehr.
    Schlecht gelaunte Stimmen, Türen knallen, neben mir spuckt jemand auf den Boden. Angewidert springe ich hoch – jetzt weiß ich, was mein Vater gemeint hat.

Z wei Stunden später sind wir unterwegs zur südlichsten Spitze Italiens. Von Reggio di Calabria geht unser Schiff nach Sizilien. Auf dem Weg dorthin wollen wir in der Nähe von Neapel, bei Salerno, einen Abstecher in das Dorf Buccino hoch oben in den Bergen machen.
    Paolo, einer der Ältesten der argentinischen Theatertruppe, stammt ursprünglich von dort. Er will nach zwanzig Jahren seine Familie besuchen.
    Der Bus kämpft sich den in engen Serpentinen angelegten steinigen Weg hinauf zu Paolos Heimatdorf, feiner Staub legt sich auf die Scheiben. Wir fahren durch die Wildnis, Hibiskus-und Eukalyptusbäume stehen am Wegrand, Äste und die Dornen wilder Rosen kratzen am Lack, hüfthohe Gräser biegen sich uns entgegen. Ich kurble das Fenster hinunter, es duftet nach Kräutern, nach Honig und Blüten. Tiere, die ich nicht sehen kann, stoßen fremdartige Geräusche aus. Sie lassen sich nicht beeindrucken vom Schnauben des Ungetüms, das ihren Frieden stört. Dann werden die Pflanzen weniger, sie weichen Felsen und trockenem Kraut. Am Horizont erhebt sich ein Berg, er brennt in der sengenden Mittagssonne. Obendrauf hat sich ein Dorf festgekrallt, nein, es sieht aus, als wäre es mit dem Felsen gemeinsam gewachsen.
    Wir halten am Rand des Dorfes, wo sich die ersten Häuser aneinanderklammern. Sie sehen aus wie aus einem Stein gehauen. Es ist schwer zu erkennen, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Die Kanten sind im Lauf der Zeit verwischt.
    Die Sonne steht hoch. Kein Mensch ist zu sehen, nichts rührt sich. Nur ein paar ausgemergelte Hunde lungern bewegungslos in den wenigen Schattenecken und hängen ihre Zungen auf den Stein. Die Holzläden an den Häusern sind geschlossen. Wäscheleinen spinnen Netze zwischen denWänden. Mir ist, als sei hier die Welt stehengeblieben vor langer Zeit.
    Paolo springt aus dem Bus, stürmt hinein in die engen Gassen, klopft an jedes Haus. Türen öffnen sich, Gesichter voller Misstrauen erscheinen, die ersten treten vorsichtig hinaus. Paolo hämmert sich auf die Brust und ruft: »Kennt ihr mich nicht mehr? Ich bin es, Paolo!« Nach und nach lösen sich die Menschen aus dem Schatten der Häuser, sie breiten die Arme aus, laufen ihm nach auf seinem Weg ins Zentrum des Ortes. Von allen Seiten strömen sie herbei. Paolo zieht als Rattenfänger durch die Gassen. Am Dorfplatz hält er an.
    Etwa zehn Frauen marschieren ihm eingehakt entgegen. Sie bilden eine Wand, die keinen durchlässt. Als sie direkt vor ihm zum Stehen kommen, wirbeln sie eine Staubwolke auf, wie Pferde, die von ihren Reitern am Zaumzeug gerissen werden. Die kleinste und älteste der Frauen, als einzige in schwarze Tücher gehüllt, bildet den Mittelpunkt der Reihe; sie ist, wie wir später erfahren, Paolos Großmutter. Der verlorene Sohn wirft sich vor ihr auf die Knie, küsst die Erde zu Füßen der Nonna. Sie befiehlt ihm aufzustehen, packt ihn und presst ihn

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