Kinderseelen Verstehen
ist der Kindergarten besser, als nur alleine zu Hause zu sein.« Sie beschäftigt sich viel allein. »Richtige« Freunde oder Freundinnen hat sie nicht, vielleicht auch deshalb, weil sie allzu oft und allzu gerne die »Bestimmerin« in den verschiedenen Spieltätigkeiten sein will. Die Erzieherin meint zur Einschätzung von Marie: »Die Kleine weiß genau, was sie will. Wenn sie von irgendetwas nicht überzeugt ist, stellt sie sich mit verschränkten Armen keck vor mich hin und meint nur, dass sie da nicht mitmache. Unsere Unternehmung könnten wir schließlich auch ohne sie durchziehen.«
Allerdings besteht das Hauptproblem auf einer anderen Ebene: Marie ist eine ausgesprochen »schlechte Esserin«. Am liebsten würde sie gar nichts essen. Ab und zu ein wenig Gemüse oder Obst. Andere Dinge rührt sie grundsätzlich nicht an. In der Frühstücks- und Mittagszeit verweigert sie sich dem Essen. Die regelmäßig von zu Hause mitgegebenen Butterbrote rührt sie nicht an, sondern verschenkt sie an andere Kinder. Auch die Eltern bestätigen die Essensverweigerung. Entsprechend dünn ist Marie – gleichzeitig aber kerngesund. Wenn andere Kinder sich mit Husten oder Schnupfen herumschlagen müssen, ist Marie topfit. Zu Hause gibt es wegen der geringen Nahrungsmenge, die Marie zu sich nimmt, sehr häufig Auseinandersetzungen. Doch Marie bleibt standhaft und setzt sich immer durch.
→ Der entscheidende Ausschnitt aus dem biografischen Hintergrund
Marie ist ein Einzel(wunsch)kind und wächst in sehr sicheren Familienverhältnissen auf. Ihre Eltern – beide sehr tüchtige und erfolgreiche Architekten mit einem gut gehenden Büro – haben von Anfang an ihrer Tochter eine sehr hohe Bedeutung in ihrem Leben beigemessen. Ihr sollte es an nichts fehlen.
Schon wenige Monate nach Maries Geburt nahm die Mutter wieder die Arbeit auf. Von nun an kümmerten sich Kindermädchen tagsüber um das Kind, die im großen Wohnhaus jeweils eine eigene, kleine Wohnung hatten. Die Grundstruktur der elterlichen Pädagogik war allerdings durch geradezu perfektionistische Erwartungen und Verhaltensweisen gekennzeichnet. So gab es unumstößlich feste Essenszeiten für das Baby und Kleinkind, bestimmte – ökologisch einwandfreie – Nahrung, eine feste Tagesablaufstruktur mit vorher abgesprochenen Beschäftigungen für das Kind und klare Absprachen zwischen den Eltern und den Kindermädchen, was wann wo und wie zu machen sei.
Das Ganze spielt sich in einem perfektionistisch geführten Haus(halt) ab, wo Störungen unerwünscht sind. Entsprechend kühl wirkt das Haus – eher minimalistisch eingerichtet und stets »klinisch rein«. Die Sprache der Eltern ist sehr kognitiv orientiert und die Erwartungen an Marie, sich stets »richtig und vernünftig« zu verhalten, sind ausgesprochen hoch. Eine emotionale Wärme ist sowohl im Haus als auch in der Umgangskultur – selbst zwischen den Eltern – kaum spürbar.
→ Bedeutungswert
Das Essen wird in der symbolischen Psychologie der sogenannten Seelennahrung gleichgesetzt. Seelennahrung bedeutet in diesem Zusammenhang, welches »Futter« die Eltern ihrem Kind im Sinne der kindlichen Entwicklungsbegleitung zukommen lassen: ob die Eltern beispielsweise freundlich oder unfreundlich sind, ob sie liebevoll oder ablehnend, Zeit schenkend oder hektisch, achtsam oder sorglos, aufgeschlossen oder zugeknöpft, zuhörend oder auf das Kind einredend, wertschätzend oder gering schätzend, aufmerksam für die Bedürfnisse des Kindes oder durchsetzungsstark in Bezug auf die eigenen Wünsche, flexibel oder dogmatisch geprägt mit ihrem Kind umgehen. Die Nahrungszufuhr und -vermittlung geschieht durch die Bezugspartner des Kindes. Sind dem Kind die Verhaltensweisen der Bezugspersonen angenehm, nimmt es auch gerne die angebotene Nahrung in sich auf; ist das Beziehungsverhältnis – aus welchen Gründen auch immer – gestört, lehnt das Kind die Aufnahme ab. Wer will schon gerne »Beziehungsgift« dem eigenen Körper zuführen!
Marie, die ihre Eltern grundsätzlich mag, allerdings noch mehr ihre Nähe brauchen würde, erlebt ihre Eltern a) zu wenig nah, b) zu wenig intensiv, c) sehr vernunftgesteuert und sehr strukturiert, d) wenig für ihre Bedürfnisse aufgeschlossen und vor allem e) kaum »locker«, wenig lebendig, kaum ausgelassen, wenig herzlich. Marie sucht eine fröhliche Kinderwelt, und so hat sie sich folgerichtig entschieden, nicht noch mehr »vernünftiges Essen« oder » vernünftiges Leben« in sich
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