Kinderseelen Verstehen
permanent überhöhten Erwartungshaltung seiner Eltern ausgesetzt. Er wird zum Sonnenschein der Familie erklärt, wobei die Eltern ihm immer wieder eine besondere Stellung unter den Geschwistern einräumen und ihn gleichzeitig auffordern, diesen Stellenwert zu erhalten. Selim spürt, dass seine Eltern über die Entwicklung ihrer Tochter ärgerlich (enttäuscht) und der beiden jüngeren Kinder überfordert (ängstlich) sind, verbunden mit der nicht ausgesprochenen Frage: »Wie wird es mit den dreien wohl weitergehen?« Da kann Selim – seinem Gefühl nach – die Eltern nicht auch noch enttäuschen. Was mag das für ein großer Druck auf Selims Seele sein! Das liegt Selim schwer im Magen, der verständlicherweise mächtig und häufig rebelliert.
→ Praktische Hinweise
Die Eltern müssen dringend ihren Erwartungsdruck auf Selim beenden, damit er wieder in eine Entspannung kommen kann. Das ist ihm in der Vergangenheit und in der Gegenwart bisher nicht vergönnt gewesen. Die Lehrkräfte müssen damit aufhören, ihre Sichtweise auf Selim lediglich auf die drei Schwerpunkte »guter, angepasster, häufig kranker Schüler« zu reduzieren. Vielmehr sollten sie sich fragen, was sie dazu beitragen können, dass Selim aus seinem Druckkreislauf herausfindet.
»Ich will ja nicht ins Bett machen« – Wenn belastende Erlebnisse Kinder traurig stimmen
Friederike, neun Jahre alt, weigert sich mit Händen und Füßen, am bevorstehenden Klassenausflug teilzunehmen. Das überrascht die Klassenlehrerin, zumal das Mädchen einerseits feste Freundinnen in der Klasse hat und zudem eine sichere, gute Stellung im Klassenverbund einnimmt, andererseits hat sich Friederike noch nie aus sozialen Verpflichtungen herausgenommen. Im Gegenteil: Sie ist »die gute Seele« in der Klasse, wenn es beispielsweise darum geht, einen Kuchen anlässlich eines Klassenfestes von zu Hause mitzubringen oder irgendwelche Aufgaben für die Klassengemeinschaft zu übernehmen. Besonders ist die Lehrerin verwundert, dass das Mädchen keinen Grund für ihre Absage nennen möchte. »Wenn es am Geld liegen sollte«, meint sie, »findet sich dafür sicherlich eine Lösung.« Friederike bleibt hartnäckig und so bittet die Lehrerin das Mädchen, ihrer Mutter auszurichten, sie solle doch bitte am Nachmittag bei ihr anrufen.
Beim folgenden Gespräch mit der Mutter erfährt die Lehrerin, dass Friederike – wenn auch nicht regelmäßig – nachts ins Bett macht. Die Mutter berichtet weiter, dass sie wegen dieser Verhaltensstörung schon sehr viel unternommen hätten. So werde die abendliche Trinkmenge eingeschränkt und früher sei auch ein verhaltenstherapeutisches Programm mit einer Strichliste und einem Belohnungssystem durchgeführt worden. Als das nichts brachte, sei ein erneuter Versuch mit der Enurex-Klingelhose unternommen worden. Doch auch das half nicht. Es folgten ein autogenes Training, Entspannungsübungen (durch den Kinderarzt) und sogar eine Mutter-Kind-Kur. Da war Friederike fünf Jahre alt. Nun hat der Kinderarzt seit geraumer Zeit Tabletten verschrieben, die das Ganze schon etwas verbessert hätten. Doch ab und zu – durchschnittlich zweimal in der Woche – ist das Bett immer noch nass.
Die Lehrerin versteht die Not von Friederike: Würde bei den zwei Übernachtungen im Schullandheim das Malheur passieren, dann fühlte sich das Mädchen sicherlich bis auf die Knochen blamiert, und keiner könnte im Voraus sagen, wie die anderen Kinder darauf reagieren würden. Der Vorschlag der Lehrerin, man könne ja mit den Freundinnen von Friederike, die mit ihr das Zimmer teilen, darüber reden, wird sofort von dem Mädchen abgelehnt. Sie sagt mit tränenerstickter Stimme: »Das soll ein Geheimnis bleiben.«
→ Der entscheidende Ausschnitt aus dem biografischen Hintergrund
Die 30-jährige Mutter von Friederike hat ihren Mann vor sieben Jahren durch einen Arbeitsunfall verloren. Da war Friederike gerade einmal zwei Jahre alt. Diesen tiefen Schmerz hat die Mutter nie verarbeitet, sie trauert noch immer. Es war nach Auskunft der Mutter eine vollkommen zufriedenstellende Ehe, und das Glück wurde durch die Geburt der Tochter perfekt. Die Eltern hatten eine wunderschöne Wohnung, planten allerdings schon, in Kürze ihr Traumhaus zu bauen. Die Schwiegereltern waren gerne bereit, das Haus vorzufinanzieren – Friederikes Vater hatte eine sehr gute Anstellung, sodass die finanzielle Seite kein Problem darstellen sollte. Doch dieses Glück und alle damit verbundenen
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