Kinderseelen Verstehen
vorstellen kann. Im Gespräch mit der Mutter erfährt sie, dass Jakob »tatsächlich manches Mal vergisst, rechtzeitig zur Toilette zu gehen, und dann passiert ihm ein Malheur«. Gleiches passiere ihm auch zu Hause. Die Untersuchung beim Kinderarzt brachte kein Ergebnis und auch die ständigen Ermahnungen scheinen nicht zu helfen. So hat die Mutter die Entscheidung getroffen, dass Jakob Windelhosen tragen müsse.
→ Der entscheidende Ausschnitt aus dem biografischen Hintergrund
Die Eltern von Jakob leben seit vier Jahren voneinander getrennt. Die Mutter hat, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, zwei Arbeitsverhältnisse. Zum einen geht sie schon früh am Morgen putzen (die übliche Arbeitszeit liegt zwischen 6 und 13 Uhr) und am Abend hilft sie als Kellnerin in einem Speiselokal aus (18.30 bis 23 Uhr). Sie steht gegen 5.15 Uhr auf, macht für Jakob das Frühstück, stellt den Wecker auf 6.30 Uhr und verlässt dann die Wohnung. Jakob steht beim Klingeln des Weckers auf, macht sich für die Schule fertig und verlässt gegen 7.15 Uhr die Wohnung. Wenn er dann zumeist gegen 13.30 Uhr aus der Schule nach Hause kommt, ist die Mutter gerade angekommen und bereitet das Mittagessen vor. Ist die Schule früher aus, streift er durch die Stadt (meist alleine), guckt sich die Auslagen in den Schaufenstern an oder sucht ein Kaufhaus auf, um sich dort aufzuhalten. Nach dem Mittagessen erledigt die Mutter die übliche Hausarbeit, während Jakob in der Küche versucht, seine Hausaufgaben zu machen.
Die Mutter legt oftmals ein sehr gereiztes Verhalten an den Tag. Wenn Jakob »dumme Fehler« macht, schreit sie ihn an oder schlägt auch mal zu. Sie lässt ihn so lange am Küchentisch sitzen, bis er seine Aufgaben fertig hat. Das kann auch schon einmal drei oder vier Stunden dauern. Möchte er zwischendurch einmal was erzählen, heißt es: »Bleib gefälligst bei deinen Aufgaben. Konzentriere dich!« Kurz vor 18 Uhr bereitet sie ein paar Butterbrote für Jakob zum Abendbrot vor und macht sich selbst für ihren Abendjob fertig. Sie schärft ihm bei der Verabschiedung ein, keinem Fremden die Tür zu öffnen und um 20 Uhr ins Bett zu gehen.
Was Jakob besonders belastet, ist die Situation, dass er seinen Vater über alle Maßen liebt und er ihn gern viel öfter als zurzeit erlaubt sehen würde. Der Vater wohnt nur zwei Straßen weiter, hat aber kaum Zeit für seinen Sohn. Die Mutter redet nur schlecht über ihn: Er sei unzuverlässig, ein »Hurengänger«, entziehe sich jeder Verantwortung und ende mit seinen »krummen Geschäften« bestimmt mal im Gefängnis. Besonders schlimm erlebt Jakob die folgende Äußerung der Mutter: »Manches Mal erkenne ich in dir deinen Vater. Der war auch immer schlecht gelaunt und hat nichts richtig gemacht. Wenn du nicht aufpasst, wirst du mal genauso ein Halunke wie er.« Solche Aussagen treffen Jakob wie ein Blitz. Dann zieht er sich auf sein Zimmer zurück, wirft sich auf sein Bett und weint.
→ Bedeutungswert
Wir alle kennen bestimmte, recht vulgär und drastisch formulierte Redewendungen, die mit dem Verdauungstrakt zu tun haben: »sich beschissen fühlen«, »vor etwas Schiss haben«, »die Hosen voll haben« oder »auf etwas scheißen«. Genau das macht Jakob: Er »scheißt auf seine Lebenssituation«, die aus seiner Sicht völlig verworren ist. Jakob erlebt, dass niemand wirklich Zeit für ihn hat. Er weiß nicht, wohin er eigentlich gehört: Seine Mutter ist zwar für ihn da, aber nicht in der Form, wie er sich die Zeit mit seiner Mutter wünscht. Sein Vater zeigt kein Interesse an ihm und in der Schule hat er keinen Freund. Immer muss er etwas hergeben – nun gibt er seinem Umfeld aus einem Gefühl tiefer Ohnmacht und Wirkungslosigkeit mehr zurück, als diesem sicherlich lieb ist. Und es ist nicht zu überriechen: »Ihm stinkt es gewaltig.«
→ Praktische Hinweise
Jakob braucht dringend beziehungsnahe Bindungspartner, die für ihn da sind und ihm deutlich machen: »Du bist mir wichtig.« Statt Vorwürfe braucht er Menschen, die gemeinsam Zeit mit ihm verbringen, in der er von sich und seinen Sorgen, Gedanken, Hoffnungen erzählen kann. Er braucht Menschen, die ihn lieben, und er braucht Menschen, die mit ihm spielen. Jakob braucht Entlastungsmöglichkeiten, um seine Ohnmacht auf andere Art und Weise aus-zu-drücken. Er braucht Menschen, die ihm helfen, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln, und er braucht Eltern, die ihrer einfachsten, aber obersten Pflicht nachkommen: Verantwortung
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