Kinderseelen Verstehen
dafür zu übernehmen, dass Jakob glücklich werden und sein Leben als wertvoll entdecken kann. Bisher hat der Junge sein ganzes Leben darauf verzichten müssen.
Weitere Anmerkungen zur Ausdrucksform »Koten«
Im Gegensatz zum Einkoten (Enkopresis) zeigen andere Kinder das Phänomen der Verstopfung (Obstipation), auch wenn hier keine ernährungsbedingten oder körperlichen Ursachen infrage kommen. Obstipate Kinder halten das Wenige, das sie besitzen und selbst produziert haben, zurück. Zumeist sind es Kinder, die durch elterliche oder institutionelle Einflüsse den Eindruck haben, dass sie alles, was sie selbst an Leistungen erbringen, sagen oder denken, hergeben müssen und ihre Ausdrucksformen grundsätzlich nicht erwünscht sind. Diese Kinder erleben ein Umfeld, in dem sie – nach Einschätzung der Erwachsenen – alles verkehrt machen. So wird beispielsweise ihre undeutliche oder stockende Aussprache kritisiert, sie werden ausgefragt und immer wieder aufgefordert, sich zu äußern, obgleich sie lieber schweigen würden. Ihnen werden keine Geheimnisse zugestanden oder ihnen wird ständig über den Mund gefahren. Sie werden in bestimmten Situationen, die ihnen selbst peinlich sind, lächerlich gemacht oder öffentlich gedemütigt und erleben ihre Existenz als überflüssig bzw. sehr belastend. Ihre Wahrheit besteht daher aus der Überzeugung: »Wenn alles, was ich sage oder tue, den anderen nicht gefällt und ich meine ganze Existenz – meine Wünsche und Hoffnungen, meine überlebenswichtigen Vorstellungen von einem guten Leben und bedürfnisgeprägten Erwartungen – aufgeben muss, dann will ich wenigstens etwas behalten, was mir andere nicht wegnehmen können.«
Motorik/Körper
»Ich will raus und toben« – Bewegungsdrang und die Suche nach Befreiung
Für die sechsjährige Patrizia ist die Welt ein riesiges Entdeckungsfeld. Pausenlos ist sie » on tour« und es gibt nichts, was sie nicht zu interessieren scheint. Zu Hause holt sie Naturmaterialien in ihr Kinderzimmer (Äste, Steine, Pflanzen, Moos ...) und baut damit große Landschaften auf, die sie anschließend zu szenischen Spielen erweitert: So werden Plastikfiguren zu Spaziergängern, kleine Puppen zu Naturkundlern und Plastiktierfiguren zu wilden Tieren. Auch im Kindergarten glänzt sie mit aktiven Spielideen, die zumeist im Freien umgesetzt werden. Das Schönste jedoch ist für Patrizia, wenn die Waldtage stattfinden: Sobald sie ihre Lieblingskleidung – Gummistiefel, Jeans und ihren dunkelbraunen Anorak – angezogen hat, ist sie nicht mehr zu halten. Im Wald werden Feenhütten oder Wichtelunterstände gebaut, umgestürzte Bäume erkundet und unterschiedliche Insekten genau unter der Lupe betrachtet. Nach den Exkursionen kommt sie glücklich und »richtig schön verdreckt« zurück und berichtet ihren Eltern am Nachmittag, was sie alles erleben und entdecken konnte. Die Eltern stellen in einem Gespräch resigniert fest: »An Patrizia ist ein richtiger Junge verloren gegangen.« Die Anmerkung der Erzieherin, Mädchen seien sehr unterschiedlich und »Ronja Räubertochter« oder »Pipi Langstrumpf« seien doch auch wundervolle Mädchen, wird von der Mutter nur kurz mit der Bemerkung kommentiert: » So haben wir uns unsere Tochter allerdings nicht vorgestellt.«
→ Der entscheidende Ausschnitt aus dem biografischen Hintergrund
Patrizia ist ein von den Eltern lang ersehntes Kind. Zum Zeitpunkt der Geburt war die Mutter 41 Jahre alt, der Vater 46. Während der gesamten Ehe gab es bis zur Geburt ihrer Tochter nur das eine Thema: »Wann wird es endlich mit einer Schwangerschaft klappen?« Als dann endlich Patrizia zur Welt kam, waren zwei Wünsche für die Eltern erfüllt: Sie hatten ein gesundes Kind und es war ein Mädchen. Ihr »Sonnenschein« wurde sehr geschlechtsspezifisch erzogen und alles, was aus Sicht der Eltern »typisch für ein Mädchen« war, wurde fleißig unterstützt. Ihr Kinderzimmer wurde in Rosa gestrichen, sie bekam viele Puppen geschenkt, viele Kleidungsstücke hatten die Farbe Pink, sie wurde mit drei Jahren zum Kinderballett angemeldet und auch ihr Spielzeug war »mädchenspezifisch«. Gleichzeitig legten die Eltern großen Wert darauf, dass Patrizia pfleglich mit ihrer Kleidung umgehen und sich nicht schmutzig machen sollte, waren es doch vermehrt »Markenklamotten, die auch nicht ganz billig waren«.
→ Bedeutungswert
In Anlehnung an eine viel diskutierte Fernsehserie würde Patrizia auf ihre Lebenssituation übertragen
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