Kinderseelen Verstehen
Traumvorstellungen wurden durch den Tod jäh zerstört. Seit diesem Zeitpunkt zog sich die Mutter aus allen sozialen Beziehungen zurück, nahm eine Arbeitsstelle als Verkäuferin an und versuchte, für sich und ihre Tochter gut zu sorgen.
Was allerdings sehr problematisch war: Die Mutter betrachtete Tag für Tag – vor allem abends am Bett, gemeinsam mit ihrer Tochter – die Fotos, auf denen ihr Mann stets lächelnd zu sehen war. Wöchentlich wurde auch das Grab besucht, es wurde gepflegt, frische Blumen wurden in die Vasen gestellt und am Grabstein erzählte sie ihrem Mann ihre Sorgen und Nöte. Alles in ständiger Anwesenheit der Tochter. Tagsüber, zu Hause, war das Lachen verschwunden, und wenn es um wichtige Entscheidungen ging, meinte die Mutter zu Friederike: »Was glaubst du, würde Papa jetzt dazu sagen?« Der Vater schwebte immer und überall wie ein unsichtbarer Geist über Mutter und Tochter.
Friederikes Mutter ließ ihre Tochter auch nicht seelisch wachsen, unabhängiger und selbstständiger werden. Im Gegenteil: Friederike war und ist für sie ihr Ein und Alles und dabei zog sie ihre Tochter immer enger an sich und in ihre tiefe Trauer. Friederike unternahm viele Versuche, ihre Mutter glücklich zu machen, doch darauf ließ sie sich nicht ein. Nicht nur, dass Friederike diesen Umstand als persönliches Versagen erlebte. Ihr Anspruch, die Mama durch nichts zu enttäuschen und noch stärker traurig zu machen, bestimmte fortan ihr gesamtes Leben. Aus dieser Zwickmühle – dem Wunsch nach Autonomie und Glück und der Unmöglichkeit, die belastende Situation zu verändern – kam Friederike nicht heraus.
→ Bedeutungswert
Zum Einnässen sagt man auch: »Wenn die Blase weint«. Nach Asthma ist Bettnässen die zweithäufigste Gesundheitsstörung im Kindesalter, deutschlandweit sind davon ca. 590 000 Kinder betroffen. Etwa jedes zehnte Kind im Alter von sieben Jahren leidet unter dem unwillkürlichen Harnabgang bei Nacht. Friederike spürt das schwebende Damoklesschwert stets über sich und nimmt sich vor, die Mutter mit ihrer eigenen Trauer und der unterdrückten Wut über ihr »häusliches Gefängnis« nicht noch weiter zu belasten. Doch dadurch setzt sie sich zusätzlich unter Druck, der sich dann über die »weinende Blase« zumindest für einen begrenzten Zeitraum entspannt.
→ Praktische Hinweise
In diesem Fall muss es der Mutter gelingen, ihre Trauer über den schmerzlichen Verlust ihres Mannes Schritt für Schritt zu verarbeiten. Sie darf ihr Problem nicht zu dem ihrer Tochter machen und sie in den Sog der Trauerpflege mit hineinziehen und dabei festhalten. Häusliche Entscheidungen hat die Mutter mit Erwachsenen zu besprechen und nicht mit ihrer Tochter, weil sie Friederike damit emotional, sozial und kognitiv überfordert. Die Mutter hat dafür zu sorgen, dass sie selbst neue Lebensperspektiven entdeckt und durch eine zunehmende gefühlsmäßige Freiheit diese auch an ihre Tochter weitergibt. Für die Entwicklung der Mutter wäre es sicherlich sehr hilfreich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Eine Anmerkung zum Schluss
Ein langes Gespräch zwischen Friederike und dem Autor des Buches, in dem das Mädchen über all diese Zusammenhänge informiert wurde, führte dazu, dass Friederike sich doch noch entschloss, den Klassenausflug mitzumachen. Die entspannte Atmosphäre trug sicherlich mit dazu bei, dass Friederike in den zwei Nächten von dem besonderen Problem nicht eingeholt wurde.
»Dann kacke ich einfach in die Hose« – Protest auf ganzer Linie
Jakob ist acht Jahre alt und besucht die 3. Grundschulklasse. Seine Schulleistungen entsprechen im Großen und Ganzen den Anforderungen, doch er muss gerade in den Fächern Mathematik und Deutsch aufpassen, nicht den Anschluss zu verlieren. Vielleicht entstehen seine Leistungslücken dadurch, dass er während des Unterrichts gedanklich häufig abwesend ist. So betrachtet er minutenlang seinen Schreibstift oder »schaut Löcher in die Luft«. Wenn ihn dann die Lehrerin aufruft und um eine Antwort bittet, zuckt er schreckhaft zusammen, bekommt einen hochroten Kopf und weiß oftmals nicht, worum es geht.
Die Lehrerin spricht von »massiven Konzentrationsstörungen« und bittet die Mutter um ein Gespräch. Gleichzeitig hat sie sich vorgenommen, ein weit unangenehmeres Thema anzusprechen: Jakob riecht »ungeduscht« und häufig auch nach Kot, so als ob er in die Hose gemacht hätte, was sie sich aber bei einem Kind in dem Alter nicht
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