Kinderstation
Stuhl heran und zeigte darauf. Lehmmacher schüttelte wild den Kopf.
»Sitzen? Ich? Jetzt? Um Himmels willen, nein! Wie kann ich das? Darf ich mein Kind sehen?«
»Es ist doch besser, wenn Sie sitzen –«, sagte Wollenreiter trocken. »Zumindest stellen Sie sich an den Stuhl, damit Sie's nicht weit haben –«
»Ist … ist es tot, Herr Doktor?« Schweiß rann Philipp Lehmmacher über das Gesicht. Mit seinen rissigen, verarbeiteten Händen wischte er sich die Haare von den Augen weg. »War … war es nicht lebensfähig?«
Dr. Wollenreiter seufzte tief. »Sie leben –«, sagte er laut. Philipp Lehmmacher tastete nach der Stuhllehne.
»Wieso – sie?« stammelte er. »Es sind Zwillinge –?«
»Nein, mein Bester.« Dr. Wollenreiter klopfte ihm auf die Schultern. »Sie haben eine gärtnerische Glanztat vollbracht.«
»Dri– Drillinge –«, hauchte Lehmmacher. Sein Gesicht wurde leichenblaß. Er schwankte. Die Augen begannen zu flattern. Dr. Wollenreiter sah ihm interessiert zu. Jetzt kollabiert er, dachte er. Interessant zu sehen, wie es einen Vater umhaut, wenn er erfährt, daß er statt eins vier Kinder hat. Überhaupt dieser Philipp Lehmmacher. Ein unscheinbarer, schmaler Mann, nichtssagend und übersehbar. Aber so ist es immer: Die Kleinsten sind die Fleißigsten. Schon beim Militär war es so … beim Gepäckmarsch gingen die Bullen ins Gras, aber die Kleinen marschierten einen weg, daß die Muskeln brannten.
»Mein bester Herr Lehmmacher«, sagte Dr. Wollenreiter mit Genuß, »ich gratuliere Ihnen zu der seltenen Geburt von Vierlingen –«
Philipp Lehmmacher riß den Mund auf, aber kein Ton kam heraus. Er sank auf den Stuhl, starrte den Arzt an, pendelte mit dem Kopf wie ein Watschenmann, dem man eine geschmiert hat, sein fahles Gesicht wurde rot und dann wieder weiß … dann lehnte er den Kopf gegen die Hüfte Dr. Wollenreiters und stammelte: »Haben … haben Sie einen Schnaps, Herr Doktor …?«
»Natürlich! Kommen Sie!« Wollenreiter faßte Lehmmacher unter, zog ihn vom Stuhl und schleifte ihn mehr als daß er ihn stützte hinüber in sein Zimmer. Dort ließ er ihn aufs Bett fallen und holte eine Flasche Klaren.
Von den siamesischen Zwillingen, das soll ihm der Alte beibringen, dachte er dabei. Im Augenblick hat er mit der Zahl Vier genug.
»Vierlinge –«, stöhnte Lehmmacher und starrte ins Leere. »Wie ist das denn möglich? Meine arme Erna –«
»Die hat's überstanden, Herr Lehmmacher. Arbeit gibt's jetzt für Sie.«
»Vier Stück auf einmal! Können Sie sich das erklären?«
»Schlecht.« Wollenreiter goß ein großes Glas Schnaps ein. »Vielleicht haben Sie bei Ihrer Arbeit als Gärtner zuviel Gase von Kunstdünger eingeatmet –«
Philipp Lehmmacher lehnte sich zurück. Ein fades Lächeln zog über seine Lippen. »Ach Sie, Herr Doktor –«
»Sehen Sie, Sie können schon wieder lachen! Und nun ein Prost auf die vier! Präparieren Sie sich darauf, Herr Lehmmacher … ab morgen sind Sie ein berühmter Mann! Mindestens eine Illustrierte wird Ihnen die Story abkaufen. ›Mein Weg zum Vierlingsvater.‹ Oder: ›Wir sind vier, Mutti!‹ Aber passen Sie auf, die Serienredakteure in den Illustrierten sind ganz ausgekochte Jungs. Verkaufen Sie Ihre Story nicht zu billig!«
Philipp Lehmmacher trank mit einem gewagten Schluck das ganze Glas aus. Er hustete heftig, warf die Arme empor und lief blau an.
»Himmel! Was ist denn das? Wie heißt der Schnaps?« schnaufte er. Wollenreiter lächelte still.
»Wollreiterlein! Ich braue ihn mir selbst aus dem reinen Alkohol des Labors –« Er hielt die Flasche hoch. »Noch einen?!«
»Um Himmels willen, nein! Meine vier Kinder sollen doch keine Waisen werden –«
Über die Sensation, die über die Kinderklinik ›Bethlehem‹ hereingebrochen war, vergaß man ganz das arme Findelkind. Nur Schwester Angela kümmerte sich darum, als sei sie die Mutter. Seit Tagen lag sie Dr. Wollenreiter und Oberarzt Dr. Julius in den Ohren, beim Chef durchzusetzen, daß das Kind getauft würde. »Jetzt ist's noch ein Heide!« jammerte Schwester Angela. »Wenn ihm etwas passieren sollte – O Gott, gerade dieses arme Wurm hat das Himmelreich verdient –«
Am Morgen des nächsten Tages hatte Prof. Karchow einen Presseempfang gegeben. Vater Philipp Lehmmacher wurde geknipst, aber an die Kinder ließ Karchow keinen heran.
»Erstens, meine Herren, ist der Anblick noch nicht ästhetisch genug, zweitens könnten Sie Bakterien einschleppen, und drittens möchte ich
Weitere Kostenlose Bücher