Kinderstation
Oberarzt?« fragte Schwester Angela stockend. »Der Dr. Wollenreiter –«
»Er ist wie närrisch auf das Kind«, stellte Dr. Julius fest.
»Wollenreiter ist ein grober Klotz«, sagte der Pfarrer und legte seine Stola ab. »Aber das scheint nur so, in Wahrheit hat er ein samtweiches Gemüt. Er will es nur nicht selbst wissen, er wehrt sich dagegen, und deshalb ist er so.«
Vor der Kapelle, auf der Diele, stand Nachtwächter Hubert Bramcke. Er trat Wollenreiter entgegen, als dieser mit dem Kind aus der Kapelle kam.
»Wie heißt es?« fragte Bramcke heiser.
»Maria! Warum? Was wollen Sie eigentlich hier? Ihr Dienst beginnt doch erst um 20 Uhr!«
»Ich habe erfahren, daß das Kind heute getauft werden soll. Und da dachte ich –« Nachtwächter Bramcke kratzte sich den Kopf und sah das Bündel in Wollenreiters Armen. »Ich habe mit meiner Ollen gesprochen. Und sie war sofort bereit dazu – so kenn ich se gar nicht.«
»Wozu war sie bereit?« Wollenreiter wollte an Bramcke vorbei. »Mann, erzählen Sie mir doch jetzt nicht Ihre Bettgeschichten!«
»Ich will die kleine Maria adoptieren!« brüllte Bramcke. Brüllen ist die einzige Möglichkeit bei diesem Flegel von Arzt, dachte er. »Und ich nehme die Kleine auch zu mir. Genau haben wir uns alles überlegt. Wir sind zwar nicht reich, aber auch nicht arm. Wir können sie später auf die höhere Schule schicken, ja, und sogar studieren kann sie. Ich schließe sofort eine Ausbildungsversicherung für Maria ab. Sie soll einmal im Leben alles haben, gerade weil man sie aus dem Leben wegstoßen wollte. Wir, die Bramckes, werden für sie sorgen, solange wir kriechen können. Auf keinen Fall kommt sie in ein Waisenhaus. Nie und nimmer.«
Dr. Wollenreiter blieb stehen und starrte den Nachtwächter Bramcke an.
»Adoptieren?« fragte er gedehnt. »Sie?«
»Werden Sie nicht beleidigend, Herr Doktor!« brummte Bramcke.
»Wie alt sind Sie?«
»Sechzig, Herr Doktor. Warum?«
»Warum! In zehn Jahren sind Sie siebzig –«
»Rechnen kann ich alleine –«
»Sie können in Ihrem Alter doch keinen Säugling mehr großziehen. Begreifen Sie das doch, Bramcke. Kein Jugendamt wird dem zustimmen.«
»Ins Waisenhaus kommt Maria nicht!« brüllte Bramcke und ballte die Fäuste. »Ich geh' an die Öffentlichkeit, wenn Maria in ein Heim kommt.«
»Was wollen Sie dann mit einem zehnjährigen Kind? Und noch weiter – wenn Maria aufs Gymnasium kommt, sind Sie ein seniler, tatteriger Greis, vor allem, wenn Sie so wie bisher weitersaufen –«
»Herr Doktor –!« schrie Bramcke. »Ich trinke keinen Tropfen mehr! Ab sofort!«
»Wer sagt denn das? Wer will sie denn wegtun?«
»Wo soll sie denn bleiben? Kennen Sie jemanden, der ein Findelkind adoptieren will?«
»Warten wir es ab, Bramcke.« Dr. Wollenreiter drückte das zappelnde Bündel an sich.
Und auch Nachtwächter Bramcke starrte Dr. Wollenreiter sprachlos nach, als dieser mit Maria Ignotus zum Fahrstuhl rannte, als wolle er das Kind noch in dieser Minute entführen.
Das Leben von Julia Bergmann und ihrem Vater, Steuerhelfer Ernst Bergmann, ging ungetrübt weiter. Tagsüber arbeiteten beide in ihren Firmen … Vater vor den frisierten Bilanzen der Steuerkunden, Julia als Serviererin im Café Bornmeyer … abends saßen sie wie immer zusammen, sahen fern, aber nur nützliche Dinge wie Tagesschau und Wetterkarte (nach der sich Ernst Bergmann seine Garderobe für den nächsten Tag aussuchte, was oft zu Fehldispositionen führte, die Bergmann aber hinnahm, weil der Irrtum nicht freien Forschern, sondern Beamten passierte, und ein echter Preuße schimpft auf keinen Beamten!), manchmal sahen sie auch eine Oper oder ein Schauspiel, machten ein Quiz mit, bei dem Ernst Bergmann durch Wissen glänzte und sich von seiner Tochter bewundern ließ, nur die Revuen schaltete er aus und einige derbe Volksschwänke. »Man muß immer auf die Kultur bedacht sein, mein Kind«, sagte er dann. »Ordinäres gibt es im täglichen Leben genug … da braucht man keine Bildröhre.«
Zufrieden war Ernst Bergmann vor allem, daß das Verhältnis mit dem ›Heringsfahrer‹ Franz Höllerer abgeflaut war. Julia sprach nie mehr davon, daß sie heiraten wollten. Höllerer hatte auch nicht mehr die Frechheit, noch einmal vorzusprechen, und wenn sich die beiden sahen, so war es reiner Zufall, denn die Wagen der Spedition Diederichs & Co. fuhren ja kreuz und quer durch die Stadt.
Im Gegenteil – Bergmann hatte einen standesgemäßen Freier für Julia ins Auge
Weitere Kostenlose Bücher