Kinderstation
Es blieb nur der Weg, es wieder nachts vor die Tür zu legen. Aber dieser Ausweg gefiel Bergmann am allerwenigsten. In der Nacht war es bitter kalt, und niemand konnte wissen, wann man das Kind entdeckte. Trotz aller Decken konnte es bis dahin erfroren sein.
Sein Schicksal machte ihn nicht nur ratlos, sondern auch – zum erstenmal in seinem Leben – so etwas wie haltlos.
Er ging in eine Wirtschaft und trank einen Schnaps.
Er besuchte auf dem Heimweg noch viele Wirtschaften, und je mehr er trank, um so weinerlicher kam er sich vor und um so haltloser kippte er die kleinen Gläschen in sich hinein.
Als er nach drei Stunden Rückweg seine Haustür erreicht hatte, konnte er kaum noch gehen und stehen und schwankte betrunken in seine Wohnung.
Zum erstenmal in seinem Leben flüchtete sich Ernst Bergmann in die Besinnungslosigkeit des Suffs.
Die Veröffentlichung der Presse und im Fernsehen hatte einen sensationellen Erfolg. 938 Hinweise aus der Bevölkerung brachten der Kriminalpolizei hektische Bewegung und Staatsanwalt Dr. Allach bald eine Gelbsucht. Da man jeder Spur nachgehen mußte (denn eine konnte ja wirklich die richtige sein), aber von Beginn an wußte, daß alle Arbeit erfolglos sein würde, kam er sich vor wie der Zauberlehrling in Goethes Gedicht, der an seinen selbstbeschworenen Geistern zugrunde geht.
»Es gibt kein perfektes Verbrechen«, sagte Dr. Allach zu Prof. Karchow. »Einen Fehler macht jeder! Der Berufsverbrecher und erst recht der Amateur. Und hier waren es Amateure! Immerhin ist der Kreis etwas eingeengt. Der Kartoffelsack stammt von der Kartoffelgroßhandlung Müller. Die Kundenliste von Müller haben wir auch. Allerdings liefert Müller auch an die Firma Diederichs & Co. die wiederum einige Supermärkte beschickt. Und hier hören die Spuren auf. Supermarktkunden sind anonyme Kunden! Es ist – gelinde gesagt – zum Kotzen!«
»Du hast also keine Hoffnung, daß Maria Ignotus wiederkommt?« fragte Prof. Karchow.
»Doch!«
»Ach! Und wieso?«
»Nicht durch eine Anzeige, nein. Aber ich möchte wetten, daß jetzt einige Gehirne dampfen über dem Problem: Wie kriegen wir das falsche Kind wieder los? Ich würde die Klinik ab jetzt besonders gut bewachen lassen.«
»Ist das nicht Aufgabe der Polizei?«
»Es geschieht bereits. Aber auch innerhalb der Klinik sollte man wachsam sein. Wieviel Personen sind an den Besuchstagen im Haus?«
»Schwer zu sagen. Aber bestimmt einige Hundert.«
»Ist es da nicht leicht, in einer Einkaufstasche einen Säugling einzuschmuggeln und irgendwo, auf einer Toilette etwa, auszusetzen?«
»Soll ich an der Tür jedem Besucher die Taschen abtasten?« rief Prof. Karchow. »Wir machen uns ja lächerlich!«
Staatsanwalt Dr. Allach sah das ein. Eine lückenlose Überwachung der großen Klinik war gar nicht durchführbar. Es gab ungezählte Möglichkeiten, ein Kind zurückzubringen.
»Hast du besondere Sicherungen für das angeblich richtige Kind getroffen?« fragte er.
»Ja. Es ist in einem Zimmer, das zu einem Lichthof hinaus liegt und daher durch das Fenster nicht zu erreichen ist.«
»Und wie erreicht man den Lichthof?«
»Durch eine Tür vom Laborflur aus. Diesen Weg kennt nur ein Eingeweihter.«
Dr. Allach hob die Schultern. »Dann bleibt uns nur noch die Geduld, abzuwarten, was in den nächsten Tagen geschieht. Daß etwas geschieht, ist ganz sicher.«
Prof. Karchow seufzte. »Wer hätte gedacht, daß ein ausgesetztes Kind solch einen Rummel verursacht? Wenn es nach mir ginge, würde ich die ganze Sache begraben. Das Kind hat seine eigenen – oder fremde – Eltern bekommen, es ist, wollen wir hoffen, geborgen, denn niemand stiehlt einen Säugling unbekannter Herkunft, wenn er keinen Mutterkomplex hat. Es ist unlogisch, daß juristisch alles so kompliziert werden muß.«
»Entführung ist eine Straftat, ganz gleich aus welchen Motiven. Stell dir vor, man hätte eines deiner Kinder im Säuglingsalter gestohlen.«
»Sie hatten ein Elternhaus. Maria Ignotus aber ist ein Findling.«
»Und doch ein Mensch wie wir mit allen Rechten an der menschlichen Gesellschaft.«
»Und wenn sie es durch die Entführung vielleicht besser hat als ein Leben im Waisenhaus?«
»Dann wird man das bei einem Urteil berücksichtigen. Auch Verbrechen aus Güte oder Mitleid bleiben Verbrechen.«
Staatsanwalt Dr. Allach hatte allen Grund zu hoffen.
Um diese Zeit saß Ernst Bergmann im Zug nach München, um über seine falsche Enkelin zu beraten.
Der Gesundheitszustand der
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