Kinderstation
nicht zu sprechen. Sie war nur immer bei dem Kind. In der Drogerie eines entfernten Stadtteils hatte man Milchpulver, Möhrenbrei und alles gekauft, was ein Säugling brauchte. Bekam Maria Ignotus keine Mahlzeiten oder wurde trockengelegt, saß Julia stumm, mit im Schoß gefalteten Händen neben dem Körbchen und sah ihr Kind an.
Am nächsten Abend verabschiedeten sie sich von Bergmann und fuhren ab. »Ich komme bald nach«, sagte Bergmann und küßte das in Decken gewickelte Kind noch einmal auf die kleine, rosige Stirn. »Ich werde es hier allein nicht aushalten.«
In der Zwischenzeit arbeitete die Polizei pausenlos, aber ohne Erfolg.
Die Untersuchungen von Kartoffelsack und Abschleppseil im Labor ergaben, daß es sich um Gebrauchsgüter handelte, wie sie zu Tausenden in der Stadt vorhanden waren. Wer gerade dieses Seil und diesen Sack wo gekauft hatte, war überhaupt nicht nachprüfbar. Allein nur der Sohlenabdruck des Schuhes brachte eine Gewißheit: Es handelte sich um eine Relief-Gummisohle Marke Arkagum, Größe 43. Über den Großhandel waren an die Schuhmacher der Stadt im Laufe der letzten zwei Monate genau 4.629 Sohlen geliefert worden.
Staatsanwalt Dr. Allach legte diese Zahlen seinem Freund Karchow vor, um zu beweisen, daß es einfacher sei, einen Keuchhusten zu heilen, als auf Grund einer Spur ein Verbrechen zu lösen.
»Ich habe auch mit der Veröffentlichung noch gezögert«, sagte er später. »Wenn wir verbreiten, daß die falsche entführt wurde, müssen wir der Presse ja die richtige Maria Ignotus vorführen. Können wir das? Hast du ein Musterkind in der Klinik?«
Prof. Karchow verneinte. Alle Kinder hatten Eltern, die sich weigern würden, ihr Kind als Lockvogel einzusetzen.
»Rufen wir mal bei den Waisenhäusern an«, schlug Karchow vor. »Vielleicht haben die dreimonatige Säuglinge, aus denen man eins auswählen könnte.«
Nach einigen Telefonaten standen neun Kinder zur Verfügung. Fünf fielen von vornherein aus, da es Jungen waren. Von den vier Mädchen waren zwei Hinterlassenschaften von Fremdarbeitern und dem Aussehen nach wenig geeignet, Maria Ignotus zu vertreten. Zwei Mädchen, die letzten also, hatten körperliche Schäden.
»Wer sieht das denn?« sagte Dr. Allach mit der Unbekümmertheit eines Gemütsathleten. »Es wird gewickelt, und kein Reporter wird es wieder auswickeln! Es geht um die Gesichtchen. Die sind doch in Ordnung?«
»Ja –«, sagte Prof. Karchow. Ihm war etwas unwohl dabei. »Ich finde diese Falle etwas unmoralisch, Heinz.«
»War es moralisch, das Kind zu stehlen?« rief Dr. Allach. »Kennst du einen besseren Weg, die Diebe in Verwirrung zu bringen?«
»Vorausgesetzt, daß es wirklich die leiblichen Eltern sind.«
»Natürlich. Wenn nicht, geht der Schuß ins Leere. Damit müssen wir rechnen.«
Und so fand gegen Mittag eine große Pressekonferenz im Ärztekasino der Kinderklinik ›Bethlehem‹ statt.
Prof. Karchow erklärte das Verbrechen in aller Einzelheit und stellte nachher die wirkliche Maria Ignotus vor. Das Kind wurde von allen Seiten fotografiert, Staatsanwalt Dr. Allach nahm das verschnürte Bündel sogar selbst auf den Arm, und Dr. Wollenreiter war bereit, in einem Interview zu erklären, daß man aus Isoliergründen eine Stunde vor der Bettruhe gezwungen wurde, einige Zimmer umzubelegen und so ein anderes Kind auf Zimmer 10 kam. Ein masernverdächtiges Kind, das zudem noch anämisch war.
Am Morgen, zwei Tage nach der Entführung also, als Julia und Franz gerade nach einer anstrengenden Nachtfahrt über schneeglatte Autobahnen in München angekommen waren, stand es in den Zeitungen.
Ernst Bergmann las es und bekam einen Herzanfall.
Er glaubte es.
In München allerdings war man nicht entsetzt. Franz und Julia hatten andere Sorgen, als Zeitungen zu lesen. Es fehlte an Bettwäsche und Handtüchern, an Windeln und Wickeltüchern, an Geschirr und Töpfen, rund heraus an allem, was in einen Haushalt, der funktionieren soll, gehört. Die Möbelfirmen hatten zwar die Möbel hingestellt, wo sie nach ihrer Meinung hingehörten, mehr aber auch nicht. In den Fassungen brannten die nackten Birnen, der Küchenherd stand an seinem Platz, war aber nicht angeschlossen, die Fenster gähnten vor Leere, denn Bergmann hatte zwar an die Matratzen, aber nicht an die Gardinen gedacht, und so lebten Julia und Franz die ersten Stunden im neuen Zuhause wie Totalgepfändete zwischen Möbelfragmenten, schliefen bis zum Mittag und fuhren dann, nachdem das Kind satt
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