Kinderstation
verloren sie den Kopf, reagierten sie auf den sekundenschnellen Einfall, taten sie Dinge, die von keiner Vernunft mehr kontrolliert wurden. Wer denkt da an einen Leberfleck unter der linken Achsel?
»Du willst das Kind behalten?« fragte er leise, als schäme er sich überhaupt dieser Frage.
»Ja, Franz.«
»Und der ewige Zweifel: Ist es wirklich unser Kind …«
»Maria ist unser Kind! Und wenn hundert Ärzte sagen, es stimme nicht – für mich ist es mein Kind!«
»Wenn es so ist –« Franz Höllerer erhob sich vom Bett und trug Maria Ignotus zurück in den Kinderwagen. »Dann soll es so weitergehen, als sei nichts geschehen.«
Drei Stunden später allerdings war die mühsam errungene innere Ruhe wieder zerstört. Ernst Bergmann hatte nach drei Stunden Schlaf wieder einen Teil seiner alten Vitalität zurückgeholt.
»Ich habe mir das alles genau überlegt, Kinder«, sagte er. »Eigentlich wußte ich es schon blitzartig, als mir Dr. Wollenreiter unser richtiges Baby im Bettchen zeigte. Wir bringen es wieder zurück –«
»Was sollen wir?« rief Franz Höllerer entsetzt.
»Fangen wir noch mal von vorne an!« Ernst Bergmann trommelte mit den Fingern nervös auf die Tischplatte. »Wir fahren zurück, morgen schon, und legen das Kind wie damals wieder vor die Tür der Klinik ›Bethlehem‹. An unser richtiges Kind werde ich schon rankommen! Und wenn ich zum Familienminister nach Bonn fahre! – Was haltet ihr davon?«
Und Julia sprach aus, was auch Franz Höllerer in diesem Augenblick dachte:
»Gar nichts! Du bist ja verrückt, Vater!«
Beleidigt lehnte sich Ernst Bergmann zurück und sprach an diesem Tage kein Wort mehr.
Das Jahr ging zu Ende, der Frühling wischte den Schnee weg und zauberte mit dem ersten warmen Wind und dem ersten lauen Regen grüne Spitzen an Bäume und Sträucher. Im Garten der Klinik ›Bethlehem‹ blühte plötzlich ein Mandelbäumchen, und im Rasen stecken gelbe und violette Krokusse. Dr. Wollenreiter war noch immer nicht verheiratet, Peter Kallenbach saß noch immer in Untersuchungshaft, nachdem drei Haftprüfungstermine abgelehnt worden waren, die Vierlinge gediehen prächtig, Nachtwächter Bramcke klagte über seine Olle, die jedes Frühjahr eifersüchtig wurde, weil dann neue Lernschwestern in die Klinik kamen und Bramcke jetzt morgens später nach Hause tappte, Dr. Julius und Dr. Renate Vosshardt hatten das Aufgebot bestellt, Prof. Karchow war wieder einmal geehrt und zum Vorsitzenden irgendeines Ausschusses ernannt worden, sogar von Dr. Petschawar aus Indien war eine Karte gekommen, ohne Absender allerdings, was Schwester Karin Degen als eine Frechheit betrachtete. »Ich bin jetzt Leiter einer eigenen Klinik«, schrieb Dr. Sandru auf englisch. »Aus den Fehlern, die ich sah, habe ich gelernt. Ich danke Ihnen allen herzlich.«
»So kann man auf höfliche, vollendete Art auch jemanden in den Hintern treten«, sagte Prof. Karchow und gab die Karte an Dr. Julius weiter. »Lassen Sie den Arschtritt im Kollegium rotieren, das hebt die Stimmung!«
Philipp Lehmmacher sah dem neuen Jahr mit anderen Gefühlen entgegen. Seine Kolumne über Gärtnerei lief im Frühsommer aus. Der Jahresvertrag war erfüllt, und man hatte ihm gesagt, daß er nicht erneuert würde, denn im Garten geschehe ja nun jeden Monat immer das gleiche, was er schon beschrieben habe. Ein Plan Lehmmachers, eine ›Veredelungskunde‹ zu schreiben, wurde abgelehnt. Der verantwortliche Redakteur drohte dem Chefredakteur, schreiend den Verlag zu verlassen, wenn noch ein Jahr lang Lehmmacher-Manuskripte auf seinen Schreibtisch kämen.
Was also tun? Da hat man Vierlinge, die alle leben, sogar zwei Siamesen sind dabei, das Geld liegt auf der Straße, und man darf es nicht aufheben! Ist das Demokratie?!
Philipp Lehmmacher schrieb an den Bundestag. Die Herren Abgeordneten, die ja vom Volk gewählt seien und daher die Meinung des Volkes zu vertreten hätten (man sieht, wie weltfremd im Grunde seiner Seele doch Philipp Lehmmacher war!), sollten einmal anfragen, ob ein Vater mit seinen Vierlingen nicht tun dürfe, was er wollte!
Er erhielt keine Antwort, was ihn sehr erbitterte. Und Philipp Lehmmacher beschloß, bei der nächsten Wahl einen weißen Zettel abzugeben.
Maria Ignotus war noch nicht gefunden worden, auch der Trick mit dem falschen Kind hatte nicht gewirkt. Es war nicht zurückgebracht worden. Für Staatsanwalt Dr. Allach stand somit fest, daß die Kindesräuber aus einem reinen Mutterkomplex gehandelt
Weitere Kostenlose Bücher