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Kinderstation

Kinderstation

Titel: Kinderstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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siamesischen Zwillinge hatte sich verschlechtert. Sie zeigten beide eine Herzschwäche, die mit vorsichtig dosierten Injektionen aufgehalten wurde. Oberarzt Dr. Julius wagte es deshalb nicht, schon jetzt das von ihm konstruierte und von Prof. Karchow begutachtete Schnürkorsett um die Köpfe der Zwillinge zu legen.
    Aus dem Inkubator waren sie herausgenommen worden, ihre physische Lebenskraft war erreicht. Sie aßen gut, wurden dicker, gediehen also prächtig, überstanden eine Infektion und machten einen fröhlichen Eindruck. Sie lachten viel und waren die Lieblinge der Station.
    Vater Philipp Lehmmacher sonnte sich in seinem Ruhm, Erzeuger von Vierlingen und einer anatomischen Abnormität zu sein. Die beiden gesunden Kinder waren nun zu Hause bei Erna, es fehlte ihnen an nichts, denn eine Zeitung hatte die Patenschaft übernommen, und eine Puderfirma kaufte sich das Recht, ihre Produkte mit den Bildern der Vierlinge zu schmücken.
    Weniger einfach ging der Erwerb mit der Kolumne ›Gärtner der Woche‹. Philipp Lehmmacher hatte zwar gelernt, wie man Bäume beschneidet und Gras sät, Büsche stutzt und Kunstdünger streut, aber mit der Zeichensetzung und der Grammatik, erst recht aber mit der Rechtschreibung kam er nicht zurecht und lieferte seine Manuskripte mit Kernsätzen wie diesen ab: ›Im Winter, wen Schne ligt, hat der Gärtner nix zu tun. Dan kan er sich kümern um die Geräte, fettet solche ein, um sie bei Früjahr gut in dem Erdreich einstechen zu könen.‹ Der verantwortliche Redakteur beschimpfte jeden Montag, wenn der ›Gärtner der Woche‹ sein Manuskript ablieferte, den Chefredakteur, daß er ihm solche Idiotenarbeit eingebrockt habe. Außerdem kamen erregte Gegenartikel von anderen Gärtnern, die Philipp Lehmmacher anrieten, noch einmal Vierlinge in die Welt zu setzen, aber die Hände vom ehrbaren Gartenhandwerk zu lassen, denn davon verstünde er nichts. Sein Ratschlag, Regenwürmer auszusetzen, um einen guten Rasen zu bekommen, sei irrenhausreif. Lehmmacher verwies in einem Gegenartikel auf die englischen Parkrasen, für die die Gärtner sogar Regenwürmer aus Holland importierten, um den Boden naturgemäß zu durchlüften. »Luft ist wichtig«, schrieb er. Worauf der Redakteur ein Wort aussprach, das unter gebildeten Menschen nicht höflich ist und deshalb hier auch nicht steht.
    Die Herzschwäche seiner Siamesen machte Lehmmacher starke Sorge. Er hatte den Besuch von Monsignore Blond bekommen und mit Freuden vernommen, daß die Kirche eine Trennung ablehne, wenn das Leben des einen Kindes in Gefahr sei. Still ließ er sein Gewissen berieseln, als Monsignore Blond von ›Willibalds Abnormitätenschau‹ anfing und Lehmmacher das Ungeheuerliche vorhielt. Dreimal in der Woche besuchte er die zusammengewachsenen Zwillinge, stritt mit Oberarzt Dr. Julius herum und lehnte es ab, seine Kinder in das Schnürkorsett pressen zu lassen.
    »Da hinein?« rief Lehmmacher entsetzt, als er das Nylongestell besichtigte. »Nie und nimmer! Das ist ja eine Qual!«
    »Die Kinder merken davon gar nichts«, sagte Dr. Julius. »Lediglich das Kopfwachstum wird reguliert. Sie beschneiden doch auch die Rosen, damit sie im nächsten Jahr üppiger blühen.«
    »Meine Kinder sind keine Pflanzen«, schrie Lehmmacher. »Ich bin gegen eine Trennung, die Kirche ist dagegen, meine Frau ist dagegen, verdammt noch mal, haben wir denn kein Recht auf unsere Kinder?«
    Hinzu kam, daß Lehmmacher Angst hatte. Wenn man in eine Klinik einbricht, um ein unbekanntes Findelkind zu stehlen, um wieviel eher kann man dann siamesische Zwillinge entführen, die ja ein bares Kapital darstellen. Dr. Julius hatte große Mühe, ihm diesen Gedanken auszureden.
    »Ein normales Kind kann verschwinden, aber gerade das Zusammengewachsensein ist der beste Schutz. Überall auf der Welt fällt man damit auf.«
    Seine Stellung bei dem Industriekonzern hatte er gekündigt. Es ging einfach nicht mehr. Weniger arbeitsmäßig als psychisch. Immer, wenn Lehmmacher im Vorgarten des Verwaltungsgebäudes arbeitete, und das war ja sein Arbeitsplatz, wenn er mit Tannenreisern abdeckte oder vor dem Frost umpflanzte, kamen Witzbolde aus der Verwaltung zu ihm und riefen: »Philipp, grab nicht zu tief – Vierlinge sind genug!« Und das war noch ein milder, ein stubenreiner Satz. Es wurde so schlimm, daß Lehmmacher zornbebend beim Personalchef sich melden ließ, seine Papiere verlangte und schrie: »In einem Betrieb, der so tief die Intimsphäre verletzt, bleibe ich

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