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Kinderstation

Kinderstation

Titel: Kinderstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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und zufrieden im Körbchen lag, in die Stadt, um den Haushalt zu vervollständigen.
    Wer hat da Lust, eine Zeitung zu lesen? Wer hat die Zeit dazu?
    Am nächsten Tag beherrschten neue Themen die Schlagzeilen. Zwei Morde, ein Großbrand, eine der schon zur Gewohnheit gewordenen politischen Dummheiten Deutschlands, ein Interview mit einem prominenten Politiker, der einen anderen prominenten Politiker mit wohlgesetzten Worten einen Dummkopf nannte. Maria Ignotus war vorbei. Eintagsfliege der Presse.
    Ernst Bergmann indessen wußte nicht, was nun werden sollte. Er hatte gezögert, ein Telegramm nach München zu schicken. Umkehren! Es ist die falsche! Oder so ähnlich. Wußte man, ob nicht die Post alles Verdächtige melden mußte? Telefonieren hatte auch keinen Zweck, denn in der neuen Wohnung war noch kein Anschluß. Also blieb nur ein Eilbrief übrig, und den setzte Ernst Bergmann in Marsch. Er legte den Zeitungsausschnitt bei, das auch ein Foto der ›richtigen‹ Maria Ignotus brachte. An den Rand schrieb er: »Ich glaube wirklich, daß unser Kind so aussieht.«
    Er schrieb es in wirklichem Zweifel. Säuglinge sehen fast alle gleich aus, dachte er. Rund, rosig, stupsnasig. Nur die Mütter können sie auseinanderhalten. Aber Julia kann es nicht. Sie kennt ja ihr Kind nur vier Tage.
    Nach einer unruhigen Nacht und Einnahme vieler Herztropfen machte sich Ernst Bergmann auf den Weg zur Klinik ›Bethlehem‹. Er wollte absolute Gewißheit haben.
    Dr. Wollenreiter empfing ihn wieder und war merkwürdigerweise bereit, ihn sofort an das Bettchen von Maria Ignotus zu führen.
    »Hat man eine Spur?« fragte Bergmann, als sie über den langen Flur gingen. Wollenreiter nickte.
    »Ja.«
    »Wirklich?« Bergmann blieb das Herz stehen. »Wer war es denn?«
    »Namen werden noch nicht genannt.« Wollenreiters Stimme klang heiser, als bemühe er sich, seine Erregung herunterzuschlucken. »Die Hauptsache ist ja, daß man unsere kleine Maria nicht entführt hat. Ich vermute, daß die Diebe das Kind sofort zurückbringen, wenn sie erfahren, daß es das falsche ist.«
    »Das glaube ich auch«, sagte Bergmann mühsam. »Das glaube ich sogar bestimmt.« Er sah hinüber zu dem Zimmer 10, aus dem gerade eine Schwester trat mit einem Gestell voller Milchflaschen. »Wo liegt sie denn jetzt?«
    »Auf 23.« Wollenreiter blieb plötzlich stehen. »Überhaupt, da fällt mir etwas ein! Was wollen Sie eigentlich noch hier? Das Jugendamt hat uns mitgeteilt, daß Sie für eine Adoption nicht in Frage kommen.«
    »Ich habe dagegen Berufung und Beschwerde eingelegt«, sagte Bergmann schnell. »Ich betrachte mich noch immer als erster und aussichtsreichster Bewerber.«
    Wollenreiter seufzte. Ein ekelhaftes Theater, das ich hier spielen muß, dachte er. Aber was würde ich nicht alles tun, wenn ich damit Maria zurückbekomme.
    Im Zimmer 23 standen vier Bettchen mit vier schreienden Säuglingen. Sie hatten Hunger und warteten auf die Milchflaschen, die noch in der Stationsküche im Wasserbad erwärmt wurden.
    »Hier«, sagte Wollenreiter und zeigte auf das Kind aus dem Waisenhaus. »Sie sehen, es geht der Kleinen gut.«
    Ernst Bergmann stand vor dem Kind und starrte es an.
    Kein Zweifel, es war sein Enkelkind. Zumindest sah es so aus. Er konnte keinen Unterschied feststellen zwischen dem Kind, das er auf Nr. 10 gesehen hatte, und diesem kleinen, schreienden Körper unter der Decke. Er kratzte sich hinter dem rechten Ohr, beugte sich über die Gitterstäbe und sah in die aufgerissenen Äuglein.
    »Stimmt«, sagte er heiser. »Sie ist es! Da bin ich aber zufrieden, Herr Doktor.«
    »Glauben Sie, wir zeigen Ihnen ein anderes Kind?«
    »Aber nein.« Bergmann verließ das Zimmer. Er taumelte etwas. Sie haben in München ein fremdes Kind. Alles war umsonst … die Vorbereitung, die Mühe, die Angst, das Risiko. Die Wohnung, die neue Einrichtung, die Flucht. Wir haben das falsche Kind entführt –
    Auf der Straße kam ihm erst voll zum Bewußtsein, wie ausweglos seine Lage war. Er schlug den Mantelkragen hoch und wanderte durch den kalten Schneetag. Ziellos, durch Straßen, die er gar nicht kannte, an einem Park vorbei, wo die Betonstützen der abmontierten Bänke wie Grabsteine im Schnee aussahen. In diesem einsamen Park blieb er stehen und starrte auf eine Schar Spatzen, die sich um ein weggeworfenes Stück Brot balgten.
    Wir müssen das Kind zurückbringen, dachte Ernst Bergmann. Aber wie? Noch einmal einbrechen und es zurücklegen ins Zimmer, war unmöglich.

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