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Kinderstation

Kinderstation

Titel: Kinderstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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nicht!« Das mit der Intimsphäre hatte er mal bei Soraya gelesen, es gefiel ihm so gut, daß er es behielt.
    Und während Philipp Lehmmacher im großen und ganzen sorglos war und sein Schicksal lobte, das ihm mit Vierlingen einen Hauch von Wohlstand ins Haus geblasen hatte, stieg Ernst Bergmann in München aus dem Zug und rannte auf Julia und Franz Höllerer zu, die auf dem Bahnsteig auf ihn warteten. In ihrer Mitte wippte ein moderner, hochrädriger Kinderwagen.
    Bergmann stieg das Blut in die Schläfen.
    »Kinder«, stammelte er, als er die ersten Begrüßungsküsse hinter sich hatte und einen Blick in den Kinderwagen warf. Ein vermummtes Köpfchen unter einer weißen Pelzdecke. Ein schlafendes Engelsgesichtchen. »Kinder – ist das nicht furchtbar? Ich meine, ich werde verrückt!«
    »Es kann nicht stimmen, Vater«, sagte Julia leise. »Ich sage dir – es stimmt nicht! Das hier ist unser Kind.«
    »Nein!« Ernst Bergmann umfaßte die Schulter seiner Tochter. Er brauchte mehr Halt als sie. »Ich habe ja die richtige Maria Ignotus gesehen –«
    Lähmendes Schweigen lag zwischen ihnen. Sie standen noch auf dem Bahnsteig, nahe den gläsernen Kabinen, in denen die Aufsichtsbeamten saßen und die Fahrkarten abnahmen. Die Menschenmassen strudelten um sie herum, wogten auf sie zu, teilten sich, schlossen sich hinter ihnen wieder … sie waren wie eine Insel in einem wilden, tosenden Meer, eine erstarrte Lava aus Hilflosigkeit und Ratlosigkeit.
    Schließlich schüttelte Julia langsam den Kopf.
    »Nein«, sagte sie laut. Der alte Bergmann zuckte zusammen, als sei ihm etwas auf den Kopf gefallen.
    »Was, nein?«
    »Dieses Kind hier ist mein Kind!«
    »Julia –«
    »Es ist es«, schrie Julia so laut, daß sich einige Reisende erschrocken herumdrehten. »Ich will nichts mehr davon hören. Für mich ist dies hier mein Kind! Ich fühle es, wenn ich es ansehe, wenn ich es auf den Arm nehme, wenn ich es bade und es nackt in meinen Händen strampelt. Eine Mutter spürt das, ihr Gefühl irrt sich nicht –«
    »Eine Mutter!« Ernst Bergmann schob den Hut in den Nacken. »Ist selbst noch ein dummes Ding von einundzwanzig Jahren und will wie eine Mutter fühlen! Himmel noch mal, Dr. Wollenreiter hat mir doch das richtige, unser Kind gezeigt!«
    Julia schwieg verbissen. Sie schob den Kinderwagen von Bergmann weg, als bedeute die Nähe des Großvaters Gefahr. Sie beugte sich in den Wagen und küßte die Nase des Säuglings, und es war eine solche Zärtlichkeit, die von ihr ausströmte, daß selbst der alte Bergmann feuchte Augen bekam.
    »Komm, laß uns erst nach Hause gehen«, sagte Franz Höllerer heiser. »Ruh dich aus, Vater. Du hast die ganze Fahrt über gegrübelt und keine Ruhe gehabt. Wir sollten das später alles mit Bedacht besprechen –«
    In der kleinen Neubauwohnung, in der noch so vieles fehlte, bis sie eine komplette Wohnung war, warf sich Bergmann in einen der einfachen Sessel und ließ sich zunächst eine Flasche Bier reichen. Gierig trank er sie leer. Auch hierin zeigte sich eine Wandlung … früher hatte er immer gesagt: »Man schlingt das Essen nicht runter, man säuft nicht wie ein Tier … der kultivierte Mensch hat auch das Essen zu einem ästhetischen Akt veredelt.« Und so trank er sein abendliches Fernsehbier auch nur in kleinen, wohldosierten Schlucken – nicht allein wegen der Ästhetik, sondern so reichte eine Flasche auch länger. Es ist eben ein Segen, zum Beamten begabt zu sein.
    Das alles gab es nicht mehr. Ernst Bergmann trank die Flasche Bier fast in einem Zug, dann wurde er ehrlich müde, zog sich die Schuhe aus, legte sich auf die Couch und schlief kurz darauf ein. Er schnarchte sogar.
    Julia und Franz saßen unterdessen im Schlafzimmer auf dem Bett, hatten ihr Kind zwischen sich auf der Matratze liegen und sahen es unentwegt an.
    »Es hat unter der linken Achsel ein kleines Muttermal«, sagte Franz Höllerer. »Wußtest du das?«
    »Natürlich. Ich habe es gleich gesehen –«
    »Auch früher?«
    »Wann früher?«
    »Gleich nach der Geburt –«
    »Hatten wir da Zeit, auf so etwas zu achten? Hast du daran gedacht, das Kind von allen Seiten zu begucken? Wir waren doch völlig kopflos.«
    Franz nickte stumm. Es waren vier schreckliche Tage, dachte er. Heute erscheinen sie völlig sinnlos, wenn man an sie zurückdenkt. Alles, aber auch alles hatten wir falsch gemacht. Wie zwei erwachsene Menschen sich bloß so völlig in Angst auflösen konnten – es war jetzt unverständlich. Aber damals

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