Kinderstation
Wollenreiter … bereiten Sie sich auf Ihre Oberarztstelle vor. Danke.«
In diesem Augenblick hätte Wollenreiter seinen Chef umarmen können. Aber wer tut das schon bei seinem Professor?
Für Schwester Karin Degen war es kein Problem, ihren Zustand zu verbergen. Die Schürzen, die sie tagsüber beim Dienst trug, verbargen viel, außerdem schnürte sie sich so stramm, daß selbst die leichten Frühjahrskleider noch paßten, selbst dann noch, als Anfang Mai der neunte Monat begann und die einzige Sorge war, wie sie das Kind unbemerkt zur Welt bringen konnte.
Niemand hatte bis zu dieser Stunde etwas bemerkt. Nun ja, sie war etwas draller geworden; böse Münder, die es ja immer in der Klinik gab, behaupteten, das sei nur zu natürlich, denn seit dem Weggang Dr. Sandrus habe Karin endlich Zeit, sich etwas zu erholen. Daß sie keine neue Liebschaften anfing, was man allgemein erwartet hatte, zumal zwei Volontärärzte gekommen waren und sich um Karin Degens Gunst bemühten, war etwas Neues und paßte eigentlich nicht zum Bild der kleinen Karin.
In den Tagen vor der Niederkunft wurde sie immer wortkarger. Ihr Kind der Klinik vor die Tür legen, wie es damals die unbekannte Mutter mit Maria Ignotus getan hatte, war nicht möglich. Das Baby würde braun sein, das wußte sie, und die Gefahr der Entdeckung war zu groß. Auf keinen Fall aber war sie bereit, das Kind zu töten und zu verscharren. Sie hatte diesen Gedanken schon einmal gehabt … aber wer täglich acht oder zehn Stunden lang mit Säuglingen umgeht, sie wickelt und nährt, sie pflegt und umhegt, kann unmöglich zur Mörderin eines Kindes werden.
So war das Problem noch nicht gelöst, was geschehen sollte, als Schwester Karin an einem Freitag den Nachtdienst übernahm. Dr. Julius rief sie noch schnell zu sich, ehe er die Klinik verließ.
»Auf Zimmer 9 liegt eine Neueinlieferung. Ein sogenanntes Besatzungskind. Braun wie eine Kakaobohne. Es ist zwei Tage alt und hat eine Hepatitis mit auf die Welt gebracht. Sehen Sie sich das Kind öfter an, Schwester Karin. Ich glaube nicht, daß es den Morgen erlebt. Übrigens ein seltener Anblick – braun und Gelbsucht, das gibt eine fast olivgrüne Hautfarbe. Die Mutter kennt die Wahrheit und nimmt es nicht tragisch, wenn der Ausgang letal ist. Gute Nacht, Schwester Karin –«
»Gute Nacht, Herr Oberarzt.«
Dann kam die Nacht.
Viermal sah Karin Degen nach dem winzigen olivfarbigen Säugling in Zimmer 9. Sie sah, daß es keine andere Hoffnung mehr gab als ein Wunder.
Um 11 Uhr nachts bekam sie plötzlich, wie der Einschlag eines Blitzes, die erste Wehe. Sie krümmte sich, hielt sich an der Tischkante der Teeküche fest und atmete ein paarmal tief. O Himmel, o Gott, dachte sie verzweifelt. Jetzt, gerade jetzt! Hier, in der Klinik, während der Nachtwache. Wie grausam ist das alles –
Von dieser Stunde an begann ein Wettlauf mit der Zeit, mit dem Schmerz, mit der nächtlichen Pflicht.
Zweimal noch, zwischen den Wehen, machte sie ihren Kontrollgang. Sie sah den Nachtwächter Bramcke in seinem Glaskasten sitzen, lesen und rauchen. Sie winkte ihm sogar zu, als er zu ihr hinschaute und nickte … und sie rannte schnell in ein Zimmer, in irgendeins, weil die neue Wehe ihren Leib krümmte, sie preßte die Knie und Schenkel zusammen, hieb die Hände gegen die Wand und kratzte mit den Nägeln den Putz auf.
Dann ging es nicht mehr. Sie lag auf dem Bett in ihrem Wachzimmer, hatte Gummitücher und Laken unter sich gelegt, war nackt ausgezogen und starrte auf ihren nun freien, nicht mehr geschnürten, sich hochwölbenden und zuckenden Leib. Neben sich hatte sie einen Verbandstisch gefahren. Auf ihm lag alles, was zur Geburt nötig war, vom heißen Wasser bis zur Nabelklemme, von der Schere bis zum Wickel, vom Plastikeimer für die Placenta bis zu fertig aufgezogenen Injektionsspritzen mit blutstillenden Mitteln. Die Tür hatte sie abgeschlossen. Sie hatte nichts vergessen.
Um 3 Uhr morgens gebar sie das Kind Dr. Sandru Petschawars. Einen Jungen. Ein gesundes Kind. Als der Kopf durchtrat, biß sie in ein Bettlaken, das sie in der Hand hielt, sie schrie in beide Fäuste hinein, und so wurde es nur ein dumpfes Stöhnen, das nicht durch die Tür in den stillen Stationsgang drang. Die letzte Wehe warf sie halb ohnmächtig zurück … aber dann war sie merkwürdig klar und wie von einem Zentnerdruck befreit, sie fühlte das Blut um sich, das zappelnde Etwas zwischen ihren Schenkeln, eine selige Erschlaffung glitt über sie, eine
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