Kinderstation
hätten, dem es völlig gleichgültig war, ob es dieses oder jenes Kind war. Es war ein Kind, das genügte. Daß es gerade Maria Ignotus war, schien eine Verkettung bitterer Umstände zu sein.
»Die eigene Mutter war es auf keinen Fall!« referierte Dr. Allach vor Professor Karchow und den Ärzten von ›Bethlehem‹. »Die eigene Mutter will ihr Kind haben! Wir müssen uns unter diesen Umständen damit abfinden, daß uns nur ein Zufall helfen kann. Der Zufall … die oft einzige Hilfe des Kriminalisten.«
Für Dr. Wollenreiter war dieses eine Ohnmachtserklärung. Aber auch er sah keinen Lichtblick. Er mußte sich damit abfinden, Maria verloren zu haben. Sein Sarkasmus verstärkte sich – zu den Kindern seiner Station war er wie ein Vater, aber zu Erwachsenen hatte er ein ständig kampfbereites Verhältnis. Seine Bemerkungen wurden Anlaß zu Beschwerden bei Professor Karchow, vor allem die Eltern, die ihre Kinder mit sogenannten Umweltschädigungen einlieferten, psychischen Beschwerden, die sich als Schlaflosigkeit, Brüllsucht oder auch Melancholie manifestierten, kamen zum Chef der Klinik und fragten erregt: »Müssen wir uns das gefallen lassen?« Karchow ließ sie fast immer zu Dr. Julius weiterreichen, der sich dann anhören mußte, wie Wollenreiter mit den Eltern umsprang.
Einmal geschah folgendes: Ein Kind von zwei Jahren wurde eingeliefert. Es schrie und schrie, war scheu und verkroch sich vor anderen Menschen. Die Eltern waren verzweifelt. Irgendein Schock mußte das Kind seelisch verändert haben.
Dr. Wollenreiter sprach mit der Kleinen zehn Minuten … er sagte nicht: »Bist du wohl still! Ruhe! Hör auf mit Schreien!«, sondern er nahm das sich widersetzende Kind auf den Schoß, schälte eine Banane und gab ihm stückchenweise zu essen. Dabei erzählte er eine kleine Geschichte von einer Puppe, die plötzlich keine Haare mehr hatte, weil sie immer so schrie und dabei alle Haare ausfielen …
Das Kind beruhigte sich, hörte zu und lächelte Dr. Wollenreiter schließlich an.
»Das ist uns unverständlich«, sagte die junge Mutter und staunte. »So haben wir Monika noch nie gesehen. Wir haben anstellen können, was wir wollten …«
»Kommen Sie bitte mal mit!« Dr. Wollenreiter ging voraus zum Sprechzimmer und blieb hinter dem Schreibtisch stehen. Die jungen Eltern standen etwas betreten mitten im Raum. »Sie sind Ingenieur?« fragte er den Vater.
»Ja. In der Planungsabteilung.«
»Wieviel verdienen Sie?«
»1.200 Mark. Aber was hat das mit der Krankheit –?«
Dr. Wollenreiter winkte ab. Er sah die junge Mutter an.
»Und Sie arbeiten auch noch?«
»Ja. Als Sekretärin. Warum?«
»Wer ist bei dem Kind?«
»Ein Mädchen –«
»Man soll es nicht glauben!« Dr. Wollenreiter hieb mit der Faust auf den Tisch. »Geld verdienen! Ein Auto haben! Fernsehen, eine Stereoanlage, Clubgarnituren, einen Pelzmantel, eine Gefriertruhe, Partys, eine Wohnung für 500 Mark Miete – aber das Kind marschiert am Rande mit. Na Gott, es ist eben da … nehmen wir eine Göre dazu, die paßt darauf auf, macht das Fläschchen heiß und sieht zu, daß es still auf dem Rücken liegt, die kleine Monika … Morgens schläft es noch, wenn man zum Geldverdienen losrast, abends schläft es auch, wenn man müde nach Hause kommt, und wenn es dann mal schreit, gehen die Nerven durch, und man schreit zurück. Geld! Geld! Geld! Luxus! Leben! Das ist alles! Wissen Sie, was dem Kinde fehlt? Die Nestwärme, die jeder Spatz hat! Eltern fehlen dem Kind. Mutter und Vater, die nicht nach der Lohntüte jagen, sondern sich um das Werden eines kleinen Menschen kümmern. Das Kind ist krank an der Lebenslust seiner Erzeuger! Ihre Monika ist ein Opfer Ihrer Prosperität!«
»Müssen wir uns das gefallen lassen?« rief in zitternder Erregung eine Viertelstunde später der Vater vor Dr. Julius. »Was ist das überhaupt für ein Flegel von Arzt?!«
»Unser bester.« Dr. Julius hob die Schultern. »Der Kollege Dr. Wollenreiter ist ein bißchen zu geradeheraus, das ist alles. Er hätte Ihnen auch sagen können: Das Kind leidet an Umweltstörungen –Das hätte genügt.«
»Dann … dann stimmt es also, was er sagt? Sie geben ihm auch noch recht?« Der Vater setzte empört seinen Hut auf. »Ich muß schon sagen, eine merkwürdige ärztliche Betreuung ist das, wo die Eltern beschimpft werden wie … wie … Ich finde einfach keine Worte! Ich werde das Kind in eine andere Klinik bringen lassen!«
»Dort wird man Ihnen das gleiche sagen.« Dr.
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